Vannor fluchte. Welcher von diesen Mistkerlen hatte ihn verraten? Die Stadt hatte sich in seiner Abwesenheit so sehr verändert – noch etwas, das er nicht in Betracht gezogen hatte. Unter Miathans Herrschaft hatten sich neue Möglichkeiten ergeben, neue Chancen, zu Reichtum und Geld zu kommen, wenn man in Bezug auf die Methoden nicht allzu wählerisch war. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen wurde immer größer in Nexis, und die Mischung aus Armut, Krankheit und Schmutz, die er gesehen hatte, hatte den Kaufmann bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele hinein erschüttert. Andere hatten jedoch, wie es schien, weit weniger Probleme mit ihrem Gewissen. Miathans verwerfliche, selbstsüchtige Unbarmherzigkeit breitete sich wie ein bösartiges Geschwür in Vannors Stadt aus, und der Kaufmann hatte nicht die geringste Möglichkeit, dem Einhalt zu gebieten. Einhalt gebieten? Er konnte sich ja nicht einmal selbst retten! Obwohl es ihm wahrhaftig nicht ähnlich sah, die Hoffnung aufzugeben, konnte Vannor sich nicht auf einen einzigen möglichen Ausweg aus seinem Dilemma besinnen.
Jede Aktivität kam zum Erliegen, als der Erzmagusch in die Küche trat. Janok, der gerade seinen Zorn auf das Haupt eines glücklosen Untergebenen ergoß, hielt mitten in seiner Schimpftirade inne, und auf seinem Gesicht spiegelten sich sowohl Erstaunen als auch Furcht. Was hatte Miathan hier zu suchen? Noch nie zuvor hatte er sich so weit erniedrigt, den Küchenbereich zu betreten.
»Ja, Herr? Was kann ich für dich tun?« Janok verbeugte sich so tief, daß er beinahe den Boden berührte. Der Küchenchef hatte niemals jenen schrecklichen Tag vor so langer Zeit vergessen, als er diesem Mistkerl Anvar unvorsichtigerweise gestattet hatte zu entkommen und in Aurians Hände zu fallen, und er hatte auch nicht vergessen, wie Miathan ihn für seinen Fehler bestraft hatte.
»Janok«, bellte der Erzmagusch. »Ich brauche einen Diener für eine delikate und besondere Aufgabe. Gibt es irgend jemanden in dieser verrufenen Bande aus Faulenzern und Tagedieben, der verläßlich ist, vertrauenswürdig und diskret?«
»Ich könnte es machen, Herr«, piepste eine leise Stimme aus der Dunkelheit. Janok machte ein finsteres Gesicht. Bei allen Göttern, wäre da nicht die Tatsache, daß sie unter Lady Eliseths Schutz stand, er hätte diesem aufdringlichen, kleinen Ding schon lange eine Lektion erteilt, die es sobald nicht vergessen würde.
Der Erzmagusch blickte stirnrunzelnd auf das junge Mädchen mit dem zerzausten Haar. »Bist du nicht Lady Eliseths Dienerin?«
»Jawohl, Sir.« Das junge Mädchen versank in einem weiteren Knicks. »Aber ich kann leicht noch eine andere Aufgabe übernehmen, weil ich nämlich so brauchbar bin, wie Lady Eliseth immer sagt.« Unter ihrem Lockengewirr zog sie die Stirn kraus. »Zumindest glaube ich, daß es das Wort war, was sie benutzt hat.«
Ohne es zu wollen, mußte Miathan lächeln. Was für ein drolliges, kleines Geschöpf das doch war. »Nun«, sagte er, »wenn du sicher bist, daß du das erledigen kannst, ohne deine Herrin dadurch zu vernachlässigen …«
»Oh, das kann ich, Herr, ich verspreche es. Ich kann ja so hart arbeiten.«
Janok biß die Zähne zusammen. Vorlautes, kleines Miststück! Immer mußte sie sich vordrängeln und dem Magusch um den Bart gehen.
»Na schön«, sagte Miathan. »Ich muß sagen, es ist wirklich eine erfrischende Abwechslung, einmal solche Begeisterung zu erleben. Janok, bereite ein Tablett mit Essen und Wein vor, das Beste, was du hast. Und du, Mädchen, wirst es so bald wie möglich zu mir nach oben bringen.«
Als der Erzmagusch gegangen war, drehte Janok sich zu der jungen Magd um. »Also wirklich, du kleines …«
»Faß mich an, und ich sag’s sofort der Lady Eliseth!« schrie das Mädchen mit schriller Stimme und sprang ihm flink aus dem Weg. Janok verfluchte sie, aber für den Augenblick war er besiegt.
Er hatte Angst vor Lady Eliseth, so wie alle anderen Ebener auch. Aber eines Tages würde dieses kleine Biest einen falschen Schritt tun, und wenn es soweit war … Mit düsteren Rachegedanken machte Janok sich daran, das Tablett vorzubereiten.
Vannor war erschöpft, verzweifelt und von Schmerzen gequält endlich in seinem Sessel neben dem Feuer eingeschlafen. Aber er hatte kaum die Augen geschlossen, als er von dem Geräusch der sich öffnenden Tür und dem Klirren von irdenem Geschirr geweckt wurde. Miathan trat ein, gefolgt von einer kleinen, schlanken Gestalt, die unter dem Gewicht eines vollbeladenen Tabletts taumelte.
Der Kaufmann sprang auf die Füße, und sein erster Gedanke war Erleichterung darüber, daß der Erzmagusch nicht in Begleitung seiner Wachen kam, obwohl das, wenn es um Miathan ging, kaum eine Rolle spielte. »Was willst du jetzt schon wieder von mir?« knurrte er.
Der Erzmagusch zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur hergekommen, um dir etwas zu essen zu bringen.« Er lächelte freudlos. »Wir müssen gut auf dich aufpassen, mein lieber Vannor. Es wäre tragisch, wenn wir dich sobald schon verlieren würden.« Dann drehte er sich zu der Dienerin um und bedeutete ihr, das Tablett auf den Tisch zu stellen. Mit gesenktem Kopf und abgewandtem Gesicht hielt sie sich hinter Miathan versteckt. Dann erhaschte Vannor plötzlich einen etwas besseren Blick auf sie. Obwohl zottelige, in die Stirn gekämmte Haare den größten Teil ihres Gesichts verbargen, war da doch etwas ungeheuer Vertrautes … Der Kaufmann stöhnte. Hastig wandte er sich von dem Erzmagusch ab, um sein Erschrecken zu verbergen. Die Magd knallte das Tablett auf den Tisch, wobei sie beinahe den ganzen Wein verspritzte, und mit einem verängstigten Blick auf den Erzmagusch schoß sie wie ein aufgescheuchtes Reh aus dem Zimmer.
»Wenn du nur gekommen bist, um mir zu drohen, Miathan – es interessiert mich nicht«, fauchte Vannor, um ihren Rückzug zu decken.
»Na schön. Das nächste Mal, wenn ich komme, mußt du jedoch auf mehr als nur Drohungen gefaßt sein.« Mit steifen Schritten stolzierte Miathan aus dem Gemach und schloß die Tür hinter sich zu.
Als er gegangen war, stürzte Vannor durch das Zimmer auf das Tablett zu und hob mit zitternden Fingern die Teller und Schalen hoch. Und tatsächlich, unter einem der Teller fand er einen zusammengefalteten Zettel, schon gewellt und feucht geworden von der Wärme des Essens. Vorsichtig faltete der Händler ihn auf und konnte dabei seine Ungeduld kaum unterdrücken. Die Tinte begann bereits zu verschwimmen, aber die hastig hingekritzelten Worte waren trotzdem noch lesbar.
Vater, hab keine Angst. Ich werde dich, sobald ich kann, hier herausholen, aber es wird vielleicht eine Weile dauern, bis ich mir einen Plan zurechtgelegt habe. Ich bitte dich, sei geduldig. Tu nichts, womit du mich verraten könntest.
Unter der Unterschrift stand noch eilig hinzugekritzelt und von Tränen verwischt: Ich habe dich lieb. Eine Zentnerlast der Sorge fiel von Vannors Schultern ab. Schnell las er den Zettel noch einmal, bevor er ihn ins Feuer warf. »Wahrhaftig, was für eine Unverfrorenheit! Von allen wahnsinnigen, lächerlichen, gefährlichen Ideen …«, murmelte er. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem widerwilligen Lächeln. Zanna! Das kleine Biest spionierte in der Akademie, direkt unter Miathans Nase.
Vannor schüttelte, halb entsetzt, halb bewundernd, den Kopf. »Sie ist wahrhaftig meine Tochter«, mußte er sich eingestehen. »Gesegnet und verwünscht soll sie sein für ihren Mut!« Mit diesen Worten machte Vannor sich mit besserem Appetit über sein Essen her, als er es je für möglich gehalten hätte.