Obwohl sie schon seit einiger Zeit das Geräusch tropfenden Wassers gehört hatte, begriff Remana erst, wohin Yanis wollte, als sie einen widerwärtigen Geruch wahrnahm, der sie beinahe umwarf. »O nein!« Sie taumelte vorwärts, um ihren Sohn an der Schulter zu packen. »Yanis, das kann nicht dein Ernst sein! Du willst uns durch die Kanalisation führen?«
Yanis kicherte. »Warum nicht?« sagte er. »Du wolltest doch ohnehin in Vaters Fußstapfen treten.« Immer noch kichernd, trat er den anderen voran durch ein dunkles, rundes Loch im Ufer, das die westliche Austrittsöffnung der Kanalisation von Nexis war.
»Verdammt und zugenäht. Warum habe ich nur nicht auf dich gehört, Benziorn?« stöhnte Jarvas. »Wenn ich diese Leute früher weggeschickt hätte, wären sie jetzt in Sicherheit!« Während er durch einen Spalt in der stabilen Wand seiner Palisade spähte, bemerkte er das Glitzern von Fackellicht auf Schwertern und Lanzen, dort wo Pendrals Soldaten seine Herberge umzingelt hatten. Der Hauptmann hatte bereits sein Ultimatum gestellt. Wenn Tilda, Jarvas und der verwundete Fremde ihnen nicht ausgeliefert worden waren, bevor die Fackel in seiner Hand heruntergebrannt war, würden seine Bogenschützen die Gebäude innerhalb der Palisade in Brand setzen.
»Du hast es doch versucht, weißt du nicht mehr?« erwiderte Benziorn. »Obwohl sie das Risiko kannten, wollten sie nicht gehen. Sie haben nicht geglaubt, daß ihnen hier irgend etwas zustoßen könnte, so sehr sind sie daran gewöhnt, diese Herberge als einen Ort der Sicherheit zu betrachten.« Er zuckte mit den Schultern. »Was hättest du denn tun sollen? Es war ihr eigener Wille, hierzubleiben und das Risiko einzugehen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Jarvas, du hast diesen Ort so gut befestigt. Gibt es denn gar keinen anderen Ausweg?«
»Nur den verdammten Fluß!« erwiderte Jarvas. »Und er ist so tief, daß die meisten von ihnen es nicht schaffen würden.« Mit bitteren Flüchen schlug er sich mit der Faust in die Hand. »Benziorn, ich muß mich stellen. Ich habe keine andere Wahl.«
»Warte.« Der Arzt griff nach seinem Arm. »Du darfst nichts überstürzen. Pendral steht im Sold der Magusch, und wir wissen, daß der Erzmagusch hinter dem Verschwinden von Menschen überall in der Stadt steckt. Es gibt keine Garantie, daß deine Selbstaufopferung uns andere retten wird. Außerdem bist du nicht der einzige, den sie haben wollen. Was ist mit den anderen? Bei allen Göttern, es muß doch irgend etwas geben, was wir tun können!«
Im Lagerhaus kauerten sich die Leute in verängstigten Gruppen zusammen. Abgesehen von dem Geplärr der kleinsten Babys, die auf übernatürliche Weise die Spannung, die in der Luft lag, zu spüren schienen, herrschte vollkommenes Schweigen. Als Jarvas den Raum betrat, richteten sich alle Augen hoffnungsvoll auf ihn. Sie erwarteten Antworten, erwarteten von ihm, daß er sie retten würde.
Emmy kam mit dem weißen Hund als Schatten auf ihn zugelaufen. »Jarvas«, sagte sie drängend, »du und Tilda und der Fremde – und natürlich Grince –, ihr müßt hier weg. Ihr seid es, die sie haben wollen. Vielleicht werden sie uns, wenn ihr nicht mehr da seid, in Ruhe lassen.«
Der große Mann runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht …«, aber Benziorn unterbrach ihn.
»Jarvas, sie hat recht. Es ist unsere einzige Chance. Das Problem ist nur … Wie kommen wir hier raus?«
»Durch die Kanalisation natürlich.«
Bei dem Klang der fremden Stimme drehten sich alle drei plötzlich um. Jarvas keuchte. »Bei allem, was heilig ist, das ist ja Leynards Mädchen! Wo, zum Kuckuck, kommst du denn her?«
Die Frau strich sich mit einer schlammverkrusteten Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zeigte auf ihren Begleiter. »Das ist mein Sohn Yanis, der jetzige Führer der Nachtfahrer. Ich habe gehört, was ihr gesagt habt. Wir werden euch auf dieselbe Weise, wie wir reingekommen sind, hinausbringen, und wir haben ein Schiff in Norberth vertäut, mit dem wir euch in Sicherheit bringen können.« Sie sprach mit einer energischen Sachlichkeit, die Jarvas an Emmy erinnerte, und er respektierte ihre vernünftige Einschätzung der Situation ohne weiteres.
»Ich suche Tilda und den Jungen.« Emmy verschwand in den Tiefen des Lagerhauses, wie immer gefolgt von dem weißen Hund.
»Wir müssen einen Verwundeten mitnehmen«, sagte Jarvas zu Yanis. »Könnt ihr mir bei ihm helfen?«
Als sie das Gesicht des Fremden sah, wurde Remana weiß. »Hagorn! Was ist ihm zugestoßen? Wird er wieder gesund werden?«
In diesem Augenblick hörten sie vom Tor her das Donnern heftiger Schläge. Brennende Pfeile zischten über ihre Köpfe wie ein Sternschnuppenhagel; einige fielen immer noch brennend auf den Boden innerhalb der Palisade, andere bohrten sich in das hölzerne Fachwerk verschiedener Gebäude oder blieben zwischen den Dachziegeln stecken und setzten die darunterliegenden Balken in Brand. Das Lagerhaus füllte sich mit Rauch. Ein hölzerner Schuppen mit Viehfutter ging in Flammen auf, und Menschen rannten schreiend durcheinander. Wie die Soldaten geplant hatten, war es nur eine Frage der Zeit, daß jemand in Panik geriet und das Tor öffnete.
Emmy taumelte würgend durch den immer dichter werdenden Rauch und ließ sich von dem Hund führen. Angesichts der drohenden Gefahr würde das Tier zu seinen Jungen zurückkehren, und wo die kleinen Hunde waren, würde sie hoffentlich auch Tilda und Grince finden. Es war ihre einzige Chance, sie jetzt überhaupt noch zu finden. Während sie sich blind und mit brennenden, tränenden Augen ihren Weg bahnte, wurde Emmy immer wieder von in Panik geratenen Menschen, die zum Ausgang rannten, beiseite gestoßen. Ohne die beruhigende, machtvolle Gegenwart des Hundes an ihrer Seite hätte man sie schon nach wenigen Sekunden umgerannt. Die Panik war ansteckend. Während sie sich weiter in den hinteren Teil des Lagerhauses vorkämpfte, spürte Emmy würgende Fangarme der Furcht, die sich um ihr hämmerndes Herz legten und ihr die Kehle zuschnürten.
»Emmy? Bist du das?« Tilda schien wie aus dem Nichts vor Emmy aufzutauchen, und die Angst hatte ihr Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. »Ist Grince bei dir?«
»Ich dachte, er wäre bei dir!« Emmy hatte alle Mühe, die Hände der hysterischen Frau, die ihren Arm umklammerten, von ihrem Heisch zu lösen.
»Nein – ich habe ihn zu dir geschickt. Dann brach plötzlich dieser Tumult aus, und das Feuer …«
Emmy fluchte mit so unbeherrschter Wildheit, daß Tilda sie nur schockiert anstarren konnte. »In welche Richtung ist er gegangen?«
»Weiß ich nicht. Ich habe ihn aus den Augen verloren …«
Ihre Worte gingen in einem grauenerregenden Heulen des Hundes unter. Emmys Herz zog sich zusammen. Neben den am Boden verstreuten Kohlen aus dem Feuer stand die weiße Hündin über einer zerfetzten Masse aus Blut und Pelz und wimmerte mitleiderregend – die niedergetrampelten Überreste ihrer Jungen.
»Ich konnte sie nicht aufhalten«, jammerte Tilda. »Eine ganze Horde ist hier durchgerannt. Es gab nichts, was ich hätte tun können.«
»Du blöde Ziege!« Emmy schlug so fest zu, daß Tilda taumelte. »Kannst du denn überhaupt nichts richtig machen?«
Während sie sich schon dafür haßte, daß sie ihren eigenen Zorn und ihre Angst an der Straßendirne ausgelassen hatte, bückte Emmy sich und legte ihre Arme um den Hals des wimmernden Hundes, der mit bemitleidenswerter Verwirrung die schlaffen, kleinen Leiber anstupste. »Komm«, sagte sie leise. »Das hat jetzt keinen Sinn mehr.« Der Kummer des Tieres zerriß sie fast. Dann jedoch wischte sie sich die Tränen aus den Augen, zog den Hund weg, und nach kurzem Zögern trennte das Tier sich von seinem toten Wurf und folgte ihr voller Vertrauen.