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»Laß uns gehen.« Emmy faßte Tilda am Arm und zog die Frau hinter sich her. »Wir müssen Grince finden.«

Sie fanden den Jungen bei Jarvas in der Nähe der Lagerhaustür. »Schnell!« sagte der große Mann. »Die anderen sind schon vorgegangen. Haltet euch ganz dicht hinter mir.« Noch bevor sie den Hof hinter sich gelassen hatten, flogen die Tore auf, und die Soldaten strömten wie eine gewaltige, unbarmherzige Woge herein. Jarvas’ Flüche übertönten selbst die Schreie der vielen verängstigten Menschen. Er blieb stehen und drehte sich halb um, als wolle er zurückgehen.

Emmy, die weiterlief, zog an seinem Arm. »Jarvas, nein! Es gibt nichts, was du jetzt noch für sie tun könntest.«

Benziorn und Remana warteten im Eingang des höhlenartigen Gebäudes, das einst eine Walkmühle gewesen war. »Beeilt euch!« dränge Remana sie. »Yanis und Tarnal sind schon mit Hagorn vorgegangen.«

Dann stellte Grince zu Emmys Entsetzen fest, daß seine geliebten Tierchen verschwunden waren. »Meine Hunde!« heulte der Junge. »Wir können sie nicht allein lassen.« Mit diesen Worten riß er sich von Tildas Hand los und verschwand in der Menge.

»Grince!« kreischte Tilda und rannte hinter ihm her, bevor irgend jemand sie aufhalten konnte. Sie wurde sofort erkannt. Emmy sah, starr vor Entsetzen, wie zwei Soldaten sich auf sie stürzten und sie trotz heftigster Gegenwehr wegzerrten. Tilda schaffte es, eine Hand frei zu bekommen, und versuchte, einem der Soldaten die Augen auszukratzen, aber der andere hatte bereits sein Schwert gezogen und rammte es ihr in den Bauch. Emmy bedeckte die Augen und schrie vor Entsetzen laut auf. Remana legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. »Trauere später«, murmelte die Nachtfahrerfrau. »Im Augenblick würde es dich dein Leben kosten.« Sie hatte recht. Emmy nickte und straffte sich, obwohl in ihrer Kehle ungeweinte Tränen schmerzten.

Jarvas war weitergelaufen, aber sein Gesicht war eine starre Maske des Schmerzes, als er sah, wie die Soldaten in der verängstigten, wogenden Masse wüteten – mit Fäusten, Stiefeln und Lanzen, ohne sich um die Schmerzen zu scheren, die sie Alten und Jungen zufügten, Männern und Frauen gleichermaßen, während sie nach den Leuten suchten, die sie gefangennehmen sollten. Emmy sah, wie Benziorns Mund zu einer schmalen Linie wurde, als er sich dem großen Mann in den Weg stellte. »Nicht du, Jarvas!« rief er. »Du bist ein gebrandmarkter Mann. Ich werde den Jungen suchen und den anderen zeigen, wie sie hier herauskommen.«

»Komm zurück!« schrie Remana. Sie konnte Emmy gerade noch am Ärmel festhalten, bevor sie Benziorn ebenfalls folgen konnte. »Nein! Seid ihr denn alle verrückt geworden? Du bist seine Helferin. Hagorn braucht dich.«

Irgendwie schafften Emmy und Remana es, auf den betäubten Jarvas so lange einzureden, bis sie ihn in die Mühle hineinziehen konnten. Das Getöse der umherflatternden Hühner und der verängstigten Schweine und Ziegen, die dort untergebracht waren, war fast mehr, als sie ertragen konnten. Das Licht der Flammen auf dem Hof erfüllte das dämmrige Gebäude mit einem tanzenden, infernalischen Leuchten. Im Schatten der großen, steinernen Färbetröge bückte Remana sich und tastete den Boden ab. »Hier ist sie!« Sie zog Jarvas am Arm. »Du mußt die Leiter finden. Hast du sie? Und jetzt runter mit dir – schnell!«

Als Emmy über die Schulter der anderen Frau blickte, sah sie die quadratische, dunkle Öffnung des Abflußrohrs und das Eisengitter, mit dem man es versperren konnte. Auf Remanas Drängen hin taumelte Jarvas hinunter, und Emmy schob mit einem schnellen Gebet, daß der Abgrund nicht zu tief war, den widerwilligen Hund hinter ihm her, bevor sie selbst nach den zerfallenden, rostigen Stufen der Leiter tastete.

Der Abstieg war barmherzigerweise nur kurz, und als sie unten angekommen war, sah Emmy bereits einen Lichtschimmer. Yanis stand mit dem blonden, jungen Nachtfahrer auf dem Gehsteig an der Seite des Abwasserkanals, in der Hand eine abgeblendete Laterne, die unheimliche Schatten auf sein bleiches Gesicht warf. Als Remana hinunterkam, drückte er die Lampe Emmy in die Hand und packte seine Mutter an den Schultern.

»Wo, zum Kuckuck, bist du gewesen?« rief er mit heiserer Stimme. »Bei den Göttern, ich dachte, sie hätten dich gefangengenommen!«

»Sei kein Narr«, gab Remana schroff zurück, bevor sie ihn heftig umarmte. »Es tut mir leid, Yanis, wirklich, mir geht es gut. Hat Tarnal Hagorn zum Ausgang gebracht?«

Yanis nickte. Er sah seine Mutter hart an, und sein Kiefer verkrampfte sich. »Ich verlasse mich auf dich, daß du dich um sie kümmerst, Mama. Sobald wir sie auf dem Fluß haben, werden Tarnal und ich durch die Kanalisation zurück in die Stadt gehen und nach Zanna und Vannor suchen.«

Remanas Antwort schockierte Emmy. Bei den Göttern, diese Nachtfahrerin konnte genauso fluchen wie ein Mann!

Einen Augenblick lang dachte sie, Remana wollte mit ihrem Sohn streiten, aber statt dessen hielt die Frau mitten in einem Fluch inne und nickte. »Ich verstehe, Yanis. Ihr beiden solltet gut auf euch aufpassen, und bringt mir die arme Zanna wieder zurück.« Ihr Mund verzog sich zu einer dünnen Linie. »Ich habe nämlich noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.«

Yanis grinste. »Falls noch etwas von ihr übrig ist, wenn Vannor und ich mit ihr fertig sind.« Mit einem schnellen, schelmischen Lächeln wandte er sich noch einmal an Emmy. »Komm schon, Mädchen, laß uns sehen, daß wir hier verschwinden.«

Sein Lächeln, nach alledem, was er in dieser Nacht mitangesehen hatte, überraschte Emmy. Für sie und Jarvas gab es keinen Grund zum Lächeln – nicht jetzt und auch nicht mehr für eine lange Zeit. Während sie den anderen mit ihrem weißen Hund, der ihr immer dicht auf den Fersen war, durch die dunklen, stinkenden Kanäle folgte, weinte Emmy um die, die sie in Nexis zurückgelassen hatte.

Grince stürzte durch Dunkelheit und Rauch zurück in das Lagerhaus, wo er sich duckte und wand und sich so seinen Weg durch das Gedränge miteinander kämpfender Gestalten erzwang, die einem einzelnen, streunenden Kind wenig Beachtung schenkten. Nicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben dankte Grince den Göttern, daß er klein und flink war. Nur seine Fähigkeit, zwischen den größeren Erwachsenen durchzuschlüpfen, bewahrte ihn davor, niedergetrampelt zu werden.

Im Lagerhaus schossen die Flammen schon durch die Decke hindurch und leckten mit gierigen Zungen an den Mauern. Die Luft war schwer und erstickend, und die Hitze stand wie eine undurchdringliche, sengende Wand. Aber zumindest war das Haus fast leer, jetzt, da die Leute vor dem Feuer geflohen waren. Hustend tastete Grince sich zu Emmys kleinem Nest aus Decken vor – und schrak voller Entsetzen vor dem grauenhaften Bild zurück, das sich ihm bot.

»Nein!« Schluchzend ließ er sich fallen, hämmerte mit den Fäusten auf den Boden und stieß wilde Flüche aus. Seine geliebten Hündchen, alle zu einem zerfetzten Haufen Fell zertrampelt! Die Hitze wurde immer schlimmer, und das Atmen fiel ihm jetzt noch schwerer als zuvor. Von oben drang ein seltsames Tosen an seine Ohren. Grince blickte aus tränenüberströmten Augen auf und sah, daß die Rammen jetzt auch an den Stützbalken des Daches züngelten. Eine Woge der Panik ergriff ihn. Er raffte sich mühsam auf und sah, wie sich ein Teil der Decke zu bewegen begann.

Grince packte, ohne nachzudenken, eins der kleinen Pelzbündel und rannte los, rannte um sein Leben, während die Balken weiter nachgaben, lief keuchend, atemlos und blind, einzig getrieben von seinem Instinkt, der ihn durch den Qualm hindurch zur Tür leitete. Funken und brennende Holzstücke landeten auf seinem Haar und versengten seine Kopfhaut, aber er bemerkte es kaum.

Mit einem triumphierenden Aufbrüllen des Feuers fiel die Decke des Lagerhauses in sich zusammen. Nicht eine Sekunde zu früh sprang der Junge durch die Tür; eine Qualmwolke wogte hinter ihm her, und Rammen versengten seine Fersen. Keuchend fiel er zu Boden, aber instinktiv rollte er sich auf den Bauch, um seine kostbare, pelzige Last zu schützen, und mit dem letzten Rest seiner Kraft kroch er aus der Gefahrenzone hinaus, wobei er sich mit einer Hand sein geliebtes Hündchen, mochte es nun lebendig oder tot sein, an die Brust preßte.