Grince setzte sich krampfartig hustend auf und fuhr sich über die tränenden Augen. Das Lagerhaus war jetzt ein flammendes Inferno, und niemand hielt sich mehr im Hof auf – jedenfalls niemand, der noch lebte. Würgend wandte der Junge sich von den dunklen, verzerrten Klumpen ab – Leichen, deren Gesichtszüge größtenteils noch zu erkennen waren. Die meisten von ihnen waren Leute gewesen, die in Jarvas’ Herberge gelebt hatten. Entschlossen richtete er seine Aufmerksamkeit auf das bißchen Pelz, das immer noch in seinen Armen lag. Es war das weiße Hündchen, sein Liebling. Grinces Herz machte einen Satz, aber er wußte, daß es besser war, sich nicht zu früh zu freuen. Die winzige Kreatur kauerte sich zitternd, schwach und elend in seinen Armen zusammen. Sie lebte noch. Aber das Tierchen brauchte etwas zu fressen und Wärme und Fürsorge. Der Junge sah sich mit wilden Blicken um. Wo war Emmy? Sie würde wissen, was zu tun war. Wo waren überhaupt all die anderen?
Grince schob das Hündchen in die zerfetzten Lumpen seines Hemdes, zu sehr um das kleine Geschöpf besorgt, um über seine eigene, mißliche Situation nachzudenken. Dann straffte er die Schultern und machte sich auf den Weg über den zertrampelten, blutbeschmierten Hof, um Emmy zu suchen. Daß sie sich durchaus unter den überall verstreuten Leichen auf dem Hof befinden konnte, war eine Tatsache, mit der er sich nicht auseinandersetzen wollte. Er fand jedoch nicht Emmy, sondern seine Mutter.
Tilda lag im Schlamm, und ihre Eingeweide hingen aus dem Leib wie bei einem geschlachteten Schwein. Ihre leeren Augen starrten in tiefem Entsetzen in den verqualmten Himmel. Grince stand taumelnd über ihr, zu entsetzt für Tränen, unfähig, seinen Blick von dem grausigen Bild abzuwenden. Nach einer Weile spürte er das Hündchen, das sich unruhig unter seinem Hemd regte, und seine winzigen, unbeholfenen Pfoten holten ihn wieder in die Realität zurück. Dieses – dieses Entsetzliche war nicht die Wahrheit. Das war nicht seine Mutter. Sie konnte es nicht sein. Sie mußte irgendwo anders sein, irgendwo in der Stadt … Er würde sie finden, das wußte er; und in der Zwischenzeit mußte er sich um sein Hündchen kümmern.
Grince wandte der grausigen Szene den Rücken zu und bewegte sich langsam wie ein Schlafwandler durch die Tore. Und der kleine Junge, der selbst kaum mehr war als ein Schatten, verschwand spurlos in den dunklen Schatten der Armen viertel von Nexis.
20
Der Tempel des Himmelsgottes
»Laß mich in Ruhe!« Das waren die ersten Worte, die Rabe seit der Zerstörung ihrer Flügel über die Lippen gebracht hatte. Cygnus seufzte ungeduldig und wandte sich von ihr ab. Seit Tagen saß er nun neben ihrem Bett, sprach auf sie ein, redete ihr gut zu, tröstete sie und versuchte, die Mauer der Verzweiflung zu durchbrechen, mit der die Königin sich umgeben hatte. Es war typisch, daß sie jetzt, da er eigene Probleme hatte, endlich auf seine Gegenwart reagierte! Vor ein paar Sekunden hatte er Besuch von dem Hohenpriester gehabt und stand noch immer unter dem Schock von Schwarzkralles Worten. »Was für Narren wir doch waren«, stöhnte er. Elster war gefangen und stand kurz vor der Hinrichtung; er selbst war ein Gefangener in den Räumen von Königin Rabe, und ihm blühte ein ähnliches Schicksal wie der Meisterin, sobald der Priester seiner Dienste nicht mehr bedurfte. Plötzlich hatte Cygnus aufgehört, sich Rabes schnelle Genesung zu erhoffen. Sobald sie ihn nicht mehr brauchte, konnte er sein Leben in wenigen Minuten verlieren.
»Laß mich in Ruhe, habe ich gesagt!« Die Schärfe in Rabes Stimme riß Cygnus aus seinen trostlosen Gedanken, und er verspürte eine unvernünftige Welle des Zorns.
»Nur allzugern, aber leider kann ich es nicht!« fuhr er sie an. »Und erzähl mir nicht, du hättest Schwarzkralle nicht gehört. Ich bin genausosehr ein Gefangener hier wie du, also kannst du dich auch gleich daran gewöhnen. Ich würde mir an deiner Stelle jedoch keine Sorgen deswegen machen«, fügte er hinzu. »Ich bezweifle, daß ich dich lange belästigen werde. Du hast ein längeres Leben zu erwarten als ich.«
Betroffen von der Verbitterung in seiner Stimme, drehte Rabe sich um und sah den jungen Arzt, der sich so geduldig um sie gekümmert hatte, zum ersten Mal richtig an. »Ich will nicht leben«, sagte sie ausdruckslos. »Wer würde so schon leben wollen? Warum habt ihr mich nicht sterben lassen, wie ich es wollte?« Ihre Stimme schwoll zu einem kindlichen Wimmern an, und Tränen des Selbstmitleids traten ihr in die Augen. Die feuchten Tropfen wirbelten durch die Luft, als Cygnus ihr heftig ins Gesicht schlug.
»Du selbstsüchtige, kleine Närrin!« schrie er. »Glaubst du, du bist die einzige, die leidet? Was ist mit deinem Volk? Was ist mit mir? Und was mit Elster, die dein erbärmliches Leben gerettet hat und jetzt bei Sonnenuntergang sterben wird? Du bist die Königin! Statt hier zu liegen und zu weinen wie ein Feigling, warum versuchst du nicht, dich an dem schwarzflügeligen Monster zu rächen?«
»Du verfluchter Kerl! Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen? Wie kannst du es wagen, so zu mir zu sprechen? Hast du denn eine Ahnung, wie es ist, ein Krüppel zu sein?« kreischte Rabe. Über alle Maßen erzürnt, versuchte sie, sich zu erheben und ihm seinen Schlag mit gleicher Münze heimzuzahlen. Blind kämpfte sie gegen das schwere Holzgerüst, das ihre Schwingen zusammenhielt.
In dem Gesicht des Arztes trat Entsetzen an die Stelle des Zorns. »Nein! Um Yinzes willen, lieg still!« Dann drückte er sie entschlossen in ihre Kissen zurück, wobei er sorgfältig den Klauen auswich, die auf seine Augen zielten. Rabe kämpfte noch einen Augenblick lang weiter, bevor Hilflosigkeit sie überwältigte und sie schlaff in sich zusammensank. Cygnus ließ sie los, als hätte sie ihn verbrannt, und die beiden jungen Himmelsleute funkelten einander schwer atmend an.
»Bei den Göttern, ich hasse dich!« fauchte Rabe.
»Ich halte auch nicht besonders viel von dir«, erwiderte Cygnus, »aber Elster und ich haben eine Menge Arbeit in diese Flügel gelegt, und ich werde nicht zulassen, daß du das alles durch deine hysterischen Anfälle zunichte machst. Versuch das noch mal, und ich binde dich an deinem Bett fest.«
»Das würdest du nicht wagen! Du …« Rabe stotterte vor Wut.
»Ach, würde ich das nicht?« Cygnus sprach mit sanfter Stimme, aber das geflügelte Mädchen sah das wütende Glitzern in seinen Augen und schloß auf der Stelle den Mund.
»Zumindest wehrst du dich jetzt endlich«, fuhr der Arzt trocken fort. »Hätte ich gewußt, wie gut das wirkt, hätte ich dich schon früher geschlagen.«
»Welchen Sinn hat es schon, sich zu wehren?« Rabes Verzweiflung kehrte mit einer überwältigenden Woge des Schmerzes zurück. Dann jedoch richtete sie sich auf und sah Cygnus in die Augen. »Ich werde nie wieder fliegen, nicht wahr?«
Cygnus schüttelte den Kopf, und Tränen des Mitleids traten ihm in die Augen. »Schwarzkralle hat leider zu gute Arbeit geleistet. Wir haben deine Flügel gerettet, aber …« Mit flammenden Augen griff er nach ihrer Hand. »Eure Majestät, rächt Euch! Ihr dürft nicht aus dem Leben scheiden, bevor Schwarzkralle für seine Untaten gezahlt hat.«
»Du weißt ja nicht, was du von mir verlangst!« rief Rabe. »Was kann ich schon gegen den Hohenpriester ausrichten? Ich bin verkrüppelt – hilflos! Man hat mich betrogen …«
»Nach dem, was ich von Anvar gehört habe«, sagte Cygnus brutal, »hast du bekommen, was du verdient hast.«
Unter seinem anklagenden Blick krümmte Rabe sich vor Scham. Sie konnte nicht leugnen, daß er recht hatte, denn sie hatte ihren eigenen Untergang besiegelt, als sie die Magusch betrog … Dann wurde ihr die Bedeutung seiner Worte endlich klar, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Einen Augenblick lang schien die Zeit für sie stillzustehen. »Was?« keuchte sie. »Anvar ist hier?«