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Emile Jacques, der ungeduldig war und unter Druck stand, nahm das Brüsseler Angebot an und schickte seine Antwort untypischerweise, ohne seinen Hinterhalt minutiös und im voraus geplant zu haben, im festen Vertrauen darauf, daß er genug Zeit hatte, um eine gute Gelegenheit ausfindig zu machen. Während er darauf wartete, daß der Brüsseler Vorschuß kam, wollte er dann Gypsy Joe beseitigen: Er würde das Wochenende in England verbringen und sich das Rockman-Honorar verdienen. Diesem Plan folgend machte er sich auf den Weg, aber fast von Anfang an ging alles mögliche schief. Noch bevor er auch nur die Stadt verlassen hatte, hatte er eine Autopanne. (»Mon auto ne marchepas.«) Emile fluchte.

Es war Freitagmorgen. Man sagte ihm, sein Wagen würde bis Montagmittag repariert sein. Emile Jacques stieß eine gotteslästerliche Verwünschung aus.

Er ging in ein Reisebüro, um seine verschiedenen Möglichkeiten zu erwägen, und fand sich am Schalter einer lächelnden, mütterlichen Madame in mittleren Jahren gegenüber, die Gefallen an ihrem noch relativ jungen Kunden fand und endlose hilfreiche Vorschläge machte.

Monsieur wolle das Wochenende in England verbringen? Nun, dann müsse er natürlich fliegen.

Sabena, die belgische Luftlinie, böte jeden Tag regelmäßige Flüge nach Heathrow an.

Madame deutete auf ein Poster an der Wand, das eine Schwadron riesiger, allesamt gerade vom Boden abhebender Flugzeuge darstellte.

Emile Jacques Guirlande schauderte und begann zu schwitzen.

Monsieur könne in Heathrow einen Wagen mieten. Sie, Madame, würde alles Notwendige veranlassen.

Emile Jacques bezwang heroisch seine Neurose und sagte, er wolle übers Meer reisen, mit der Wagenfähre, wie er es beabsichtigt hatte. Madame sagte, auf Grund der Verzögerung werde er zweifellos das Boot verpassen, das er ursprünglich hatte nehmen wollen, aber er könne später über eine andere Route fahren, und sie, Madame, könne veranlassen, daß ihn in Dover ein Mietwagen erwarten würde.

Emile Jacques erklärte sich einverstanden.

Strahlend erledigte Madame einige Telefongespräche, während ihr Kunde sich die Stirn abtupfte.

Sie erklärte ihm freundlich, daß man schon bald durch den Tunnel nach England würde reisen können. Die Bohrarbeiten würden noch in diesem Jahr beginnen. Ob das nicht ganz wunderbar sei? Binnen eines Augenblicks wuchs sich Emile Jacques’ Flugangst zu einer Tunnelklaustrophobie aus.

Madame gab ihm Tickets und Reservierungen und einen Bordpaß, die seiner Vorliebe für das Wasser Rechnung trugen.

Sie sagte:»Ich fürchte, die Überfahrt dauert viereinhalb Stunden, aber ich habe Ihnen einen Mietwagen gebucht, der in Dover für Sie bereitstehen wird. Tut mir wirklich leid, daß Sie solche Probleme mit Ihrem eigenen Wagen hatten.«

Emile Jacques, der noch immer sein Zittern zu unterdrük-ken suchte, bezahlte sie mit schwachem Lächeln und, aus Gründen der Vorsicht, in bar und fuhr dann, ihren Anweisungen folgend, mit dem Zug zur Kanalküste. Bei sich hatte er seinen Metallkoffer und eine Reisetasche, und die ganze Zeit über redete er sich selbst gut zu. Wenn diese beunruhigende Abweichung von seiner normalen Tötungsroutine auch nur das geringste Risiko zu bergen schien, würde er noch einmal nach England fahren und sich zu einem späteren, ruhigeren Zeitpunkt um Gypsy Joe kümmern.

Er ging an Bord der Fähre, zusammen mit etwa vierhundertfünfzig anderen Passagieren, von denen viele zum Einkaufen für einen Tag aufs Festland gefahren waren und jetzt mit» Duty-Free-Tüten «beladen nach Hause zurückkehrten. Emile Jacques suchte sich einen Sitzplatz an der Bar, bestellte Mineralwasser und hielt seinen Metallkoffer fest zwischen seine Füße geklemmt.

Die Fähre legte am Freitag, dem sechsten März 1987, abends um fünf nach sechs von ihrem Ankerplatz ab. Um sechs Uhr vierundzwanzig passierte das Schiff die Außenmole des Hafens und steuerte mit beschleunigtem Tempo das offene Meer an.

Vier Minuten später sank es.

Auszug aus dem offiziellen Unfallbericht, veröffentlicht vom Königlichen Amt für Drucksachen.

Am sechsten März 1987 fuhr die Roll-on-roll-off-Passagier- und Frachtfähre Herald of Free Enterprise um 18.05 MEZ von Liegeplatz Nummer zwölf im inneren Hafen von Zeebrügge ab. Die Herald war mit einer achtzigköpfigen Besatzung bemannt und hatte 81 PKWs, 47 LKWs und 3 andere Fahrzeuge geladen.

Es waren ungefähr 459 Passagiere für die Überfahrt nach Dover an Bord gegangen. Die Herald passierte die Außenmole um 18.24. Vier Minuten später kenterte sie. Während der letzten Sekunden drehte die Herald sich mit großer Geschwindigkeit nach steuerbord und ist nur deshalb nicht ganz gesunken, weil sie backbord in flachem Wasser auf Grund lief. Die Herald blieb mit der Steuerbordseite über Wasser liegen. Unter der Wasserlinie füllte sich die Fähre so schnell mit Wasser, daß 150 Passagiere und 38 Mann Besatzung ums Leben kamen.

Die Herald kenterte, weil sie sowohl mit geöffneten inneren als auch äußeren Bugtoren in See stach.

Die Bugtore standen offen, weil man sie nicht geschlossen hatte, nachdem die Kraftwagen und andere Fahrzeuge für die Überfahrt nach Dover an Bord gefahren worden waren. Niemand hatte nachgeprüft, ob die Tore geschlossen waren.

Die Fähre füllte sich mit Wasser und kenterte binnen dreißig Sekunden.

Der Rumpf, der über die Oberfläche des Meeres hinausragte, war leuchtend rot gestrichen.

Rot wie eine Ampel.

Rot wie Red Millbrooks Haar.

Rot.

In England lieh sich Davey the Rock unter Tränen des Selbstmitleids am sechsten März um sechs Uhr fünfundzwanzig von Nigel Tape genug Geld, um sich zu betrinken. Pleite, ohne Arbeit, ausgehungert, was Sex betraf, und halb wahnsinnig vor Angst vor einem nur zur Hälfte bezahlten Mörder, gab Rock allen anderen die Schuld.

Als die Herald kenterte, rutschte Emile Jacques’ mit Waffen beladener Metallkoffer unausweichlich zwischen seinen Füßen weg. Er reckte sich, um den Koffer festzuhalten, und stürzte ein Stockwerk nach unten; das letzte, was der Mörder, der vorm Fliegen Angst hatte, sah, war die Wand aus Wasser, die ihn ertränkte.

Um zehn Uhr an jenem Abend, während die kalte Nordsee noch immer durch das Wrack wirbelte, das sich auf den Meeresgrund gesenkt hatte, verließ Gypsy Joe sein Haus und machte seine stille, normale Runde durch seinen Stall voller dösender Pferde; so wie er es ungefährdet am nächsten Abend tun würde und am übernächsten und am überübernächsten.

Die Sterne funkelten.

Ohne zu wissen warum, war Gypsy Joe mit sich selbst im reinen.

Ein Lied für Mona

Es gibt Verbrechen, auf die weder Gefängnisstrafen noch Geldbußen stehen. Es gibt im Strafgesetzbuch keinen Paragraphen gegen schwere seelische Mißhandlung. >Ein Lied für Mona< erzählt von einer alten Sünde.

Joanie Vine begleitete ihre Mutter zu den Rennen und fand jede einzelne Minute abscheulich. Joanie Vine schämte sich für die Art und Weise, wie ihre Mutter gekleidet war, wie sie sprach und lebte; mit anderen Worten, sie wandte sich mit Grauen ab von dem ausgeblichenen Tweedhut über dem enggegürteten Regenmantel; krümmte sich bei den lauten, unfeinen Vokalen der ländlichen Waliserin und konnte sich nicht dazu überwinden, anderen gegenüber zuzugeben, daß ihre Mutter von Beruf Stallbursche war.

Joanie Vine begleitete ihre Mutter zum ersten Tag des Cheltenham Festivals — eines der prestigeträchtigsten Ereignisse im Jahreskalender der Hindernisrennen — einzig und allein deshalb, weil ihre Mutter an diesem Tag sechzig wurde und Joanie Vine für diese großzügige Selbstaufopferung auf den bewundernden Beifall ihrer Freunde hoffte. Schon vor dem ersten Rennen hatte sie beschlossen, ihre Mutter sobald als möglich im Gewühl zu verlieren. Sie verstand nicht, warum so viele Menschen hier der schlechtgekleideten Frau, die sie ganz automatisch einen Schritt hinter sich gelassen hatte, instinktiv zulächelten.