Vivi hatte beschlossen, irgendeinen nicht eingetragenen Ausschuß von Halbblut als ihr Entree zu der Auktion zu benutzen, und hatte für einen Apfel und ein Ei einen beim Abdecker gekauft; einen Braunen mit einem weißen Stern, so alltäglich wie nur was. Bei der Auktion mußte es einfach einen wie ihn geben, hatte sie gesagt. Sie würden ihn gegen irgend etwas Großes eintauschen, das nach ihm im Katalog auftauchte; und tatsächlich, die Nummer einsacht-neun war perfekt gewesen.
Vivi, eine vorausschauende Natur, wollte Jim im Frühjahr mit all ihren Ersparnissen nach Norden schicken, um ein billiges zweijähriges Vollblut zu kaufen, einen Braunen mit einem weißen Stern, der zumindest passabel aussah.
Dann sollte Jim vom Tierarzt das neue Merkmalzertifikat des Pferdes ausfüllen lassen, das genau mit seinem Fohlenzertifikat im Register übereinstimmen würde; und Jim Turner, Renntrainer, würde in seinem Stall einen Braunen mit einem weißen Stern haben, überprüft, registriert und für Rennen zugelassen.
Jim und Vivi wußten genau wie der Direktor, daß junge Pferde sich veränderten, wenn sie älter wurden, so wie Kinder zu Männern wurden; schon bald würde kaum noch eine Chance bestehen, daß irgend jemand den Aristokraten an äußerlichen Merkmalen erkannte. Er konnte mit seiner neuen Identität bis in alle Ewigkeit Rennen bestreiten, und niemand würde ihn je erkennen. Vivi konnte sich nicht vorstellen, was jetzt noch schiefgehen sollte, und rechnete keine Sekunde lang mit der Zähigkeit des Direktors, der bereits über lästige, gelegentliche Überprüfungen der Haarwirbel bei Braunen mit weißem Stern für die nächsten Jahre nachdachte.
«Im Sommer«, sagte Vivi,»werden wir den Stall ein bißchen aufpeppen. Ein bißchen Farbe. Blumenkübel. Im Herbst, wenn der Hengst die ersten Siege nach Hause bringt und die Leute aufmerksam werden, haben wir dann einen Stall, den die neuen Besitzer ohne weiteres annehmbar finden.«
Jim nickte. Vivi konnte es schaffen. Sie war wirklich klug, Vivi.
«Und dann bist du mittendrin, Jim Turner, und keine von diesen hochnäsigen Kühen von Trainerfrauen wird jemals wieder die Nase über uns rümpfen.«
Direkt vor der Hintertür erklang ein jähes, metallisches Klappern, und sie beide standen, sofort und zutiefst erschreckt, ruckartig auf und gingen nachsehen.
Draußen stand eine schlurfende, unordentliche Gestalt, ein Mann, der seine Hände im Mülleimer hatte und ihren Haushaltsmüll durchwühlte. Er war bereits hochgeschreckt, um sich hastig zurückzuziehen.
«Es ist ein Landstreicher!«rief Vivi ungläubig.»Der will unseren Abfall stehlen.«
«Verschwinde«, sagte Jim und ging drohend auf den Mann zu.»Los, weg mit dir.«
Der Landstreicher ging ganz langsam ein paar Schritte zurück.
Jim Turner verschwand wieder in seiner Küche und packte die Schrotflinte, mit der er Kaninchen vertrieb.
«Los«, schrie er, als er wieder herauskam und den Lauf auf den Landstreicher richtete.»Verschwinde und komm ja nicht wieder. Ich will keinen Abschaum wie dich hier auf dem Grundstück. Verpiß dich.«
Der Landstreicher ging langsam zurück Richtung Straße, und die Turners kehrten in gerechter Empörung in ihre warme Küche zurück.
Der Landbesitzer bedauerte schon am Nachmittag, was er am Morgen getan hatte. Es war, wie ihm verspätet aufging, kein guter Tag, um einen Mann aus seinem Heim zu vertreiben, selbst wenn sein Heim ein Loch im Erdboden war. Als sie das Nest in Stücke gerissen hatten, die beiden
Gemeindeangestellten und er, hatte er in den Ruinen einen Plastikbeutel voller Zigarettenkippen gefunden. Er war kein phantasievoller Mensch, aber ihm drängte sich der Gedanke auf, daß er dem Landstreicher alles, was er hatte, sein Heim und seine Behaglichkeit, genommen hatte. Er hatte zu dem düsteren Himmel aufgeblickt und geschaudert.
Am Nachmittag unternahm er einen ausgedehnten Spaziergang über sein Land — eine halbentschlossene Suche nach dem Landstreicher, um sein Gewissen zu beruhigen; dennoch war er schließlich beinahe überrascht, als er ihn über einen seiner Grenzwege auf sich zukommen sah.
Der Landstreicher schlenderte langsam weiter; er war nicht allein. Neben ihm ging, genauso langsam wie er, ein Pferd.
Er blieb stehen und das Pferd ebenfalls. Der Landstreicher hielt dem Pferd auf einer schmutzigen Hand ein Zuk-kerstück hin, und das Pferd fraß es.
Der Landbesitzer betrachtete die beiden voller Verwirrung, den schmutzigen Mann und das gut gepflegte Pferd mit seiner ordentlichen Decke.
«Wo haben Sie den denn her?«fragte der Landbesitzer und zeigte auf den Hengst.
«Gefunden. Auf der Straße. «Die Stimme des Landstreichers war heiser von zu seltener Benutzung, aber die Worte waren klar und deutlich. Und gelogen.
«Hören Sie«, sagte der Landbesitzer verlegen,»Sie können sich dieses Haus da wieder aufbauen, wenn Sie wollen. Bleiben Sie noch ein paar Tage. Wie wär’ das?«
Der Landstreicher dachte darüber nach, schüttelte aber den Kopf, denn er wußte, er konnte nicht bleiben, schon wegen des Pferdes nicht. Er hatte das Pferd aus seinem Stall geholt und mitgenommen. Sie würden sagen, er habe es gestohlen, und ihn verhaften. In der Vergangenheit war er zwanghaft aus Institutionen geflohen, aus Kinderheimen und dann von der Armee, und wenn ihm der Gedanke an die Mauern des Obdachlosenasyls schon unerträglich war, fand er den Gedanken an eine Zelle im Kittchen erst recht furchtbar. Kälte und Hunger und Freiheit, ja. Wärme und Essen und eine verschlossene Tür, nein.
Er wandte sich ab, bedeutete dem Landbesitzer unmißverständlich, das Pferd in Empfang zu nehmen, seine Hand auf das Halfter zu legen und zu tun, was recht war. Beinahe automatisch tat es der Landbesitzer.
«Warten Sie«, sagte er, als der Landstreicher sich zum Gehen wandte.»Hm… nehmen Sie das da. «Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und hielt sie ihm hin.
«Nehmen Sie… bitte.«
Zögernd kam der Landstreicher zurück und nahm das Geschenk an, nickte zur Bestätigung, daß etwas gegeben, etwas erhalten worden war. Dann wandte er sich abermals ab und ging die Straße hinunter, und der lang befürchtete Schnee begann in großen, einzelnen, schwebenden Flok-ken zu fallen und löschte seine verschwommenen Umrisse in dem ersterbenden Nachmittag aus.
Wo wird er hingehen? fragte sich der Landbesitzer unbehaglich. Und der Landstreicher dachte ohne Angst, daß er die ganze Nacht durch den Schnee wandern würde, um sich warm zu halten. Und am Morgen würde er eine Zuflucht finden und wie gewöhnlich essen, was andere in ihrem Überfluß weggeworfen hatten. Sein glühender Zorn vom Morgen, der aufgelodert war und sich auf Jim Turner konzentriert hatte, war mittlerweile zu Asche heruntergebrannt, und alles, was er empfand, während er sicheren Abstand zwischen sich und diesen Ort legte, war sein normaler, überwältigender Drang, allein zu sein.
Der Landbesitzer sah das Pferd an und den Stern auf seiner Stirn und schüttelte bei dem Gedanken, der ihm kam, hämisch den Kopf. Dennoch, als er das Pferd in eine Scheune hinter seinem Haus gesperrt hatte, fischte er die Zeitung vom Vortag aus dem Papierkorb und betrachtete die Schlagzeile des Revolverblatts —»Suchen Sie den strahlend weißen Stern«- und auch das Faksimile des Fohlenzertifikats in der seriösen Tageszeitung. Dann rief er zögernd bei der Polizei an.
«Sie haben ein Pferd gefunden, ja, Sir?«sagte eine fröhliche Polizistenstimme mit markigem Tonfall.»Da sind Sie nicht der einzige, das kann ich Ihnen versichern. Hier gibt es im ganzen Dorf Pferde. Irgendein Narr hat bei Jim Turner sämtliche Boxen geöffnet und sie alle rausgelassen. Es könnte ein Landstreicher gewesen sein. Turner sagt, er hätte vor ein paar Stunden einen von seinem Hof gejagt. Wir suchen nach dem Kerl, der sich auf Ihrem Land niedergelassen hat. Aber es ist dunkel, und es schneit, und ich habe natürlich viel zu wenig Männer, wo doch Heiligabend ist!«