Bill Williams kehrte an seinen Schreibtisch zurück und trank den Rest seines lauwarmen Kaffees, und seine Gedanken waren genauso bitter und schwarz wie die Flüssigkeit in seinem Becher. Die Voice hatte einer Dynastie gehört, deren wohlwollendes Oberhaupt vor kurzem verschieden war. Die Nachfahren hatten, in dem Verlangen, das Bargeld untereinander aufzuteilen, ihren größten Aktivposten an eine facettenreiche Firmengruppe verkauft, für die die Zeitung lediglich ein weiteres lokales Glied in der Kette ihrer kommerziellen Unternehmungen war. Individualismus war bei den neuen Herren nicht erwünscht. Maximaler Profit dagegen schon. Soweit als möglich sollten die Lokalzeitungen ihrer Gruppe ökonomischerweise mit einer Stimme sprechen. Infolgedessen wollten sie an der Spitze der Voice einen eigenen, für gut befundenen Chefredakteur sehen. Es traf sich daher günstig, daß Ex-Chefredakteur Williams noch eine Woche Urlaub zustand; er konnte seinen Schreibtisch aufräumen und würde nicht zurückkommen.
Bill Williams hatte gewußt, daß die Familiendynastie eines Tages verkaufen und er dann weiterziehen würde. Er hatte gewußt, daß in der halsabschneiderischen Zeitungswelt eine neue Brutalität Einzug gehalten hatte. Das Wissen allein hatte ihn jedoch nicht auf die Plötzlichkeit des Geschehens vorbereitet, auf die Grausamkeit und das absolute Fehlen auch nur eines Funkens von Höflichkeit von irgendeiner Seite. Es hatte keinen Händedruck gegeben, keine Entschuldigung, schon gar keine guten Wünsche, sondern lediglich eine unverblümte, seine Kündigung betreffende Notiz in seiner privaten E-Mail.
Aus der allgemeinen Ruhe in dem langgestreckten Raum zog er den Schluß, daß die neuen Besitzer bisher nichts über den Herrschaftswechsel hatten verlauten lassen. Ihm konnte das nur recht sein. Seine letzten drei Ausgaben — Samstag, Dienstag und Samstag — würden das Beste sein, dessen er fähig war. Und danach.
Er atmete tief durch und holte sich die Namen sämtlicher in London veröffentlichter Zeitungen mitsamt deren Besitzern auf den Bildschirm. Er hatte seine Zeit in der Provinz abgedient — wie die Pferde, die den äußeren Ring einer Kreisbahn auf und ab liefen, und fand, er sei jetzt an der Reihe, einmal selbst im Herzen des Geschehens zu sitzen. Wenn er selbst den Zirkusdirektoren nicht erzählte, daß er frei und willig war, dachte er, wobei er seine Metaphern frohen Mutes durcheinandermischte, wie sollten sie dann davon erfahren?
Er telefonierte, schrieb Briefe und E-Mails und schickte Kopien der Voice durchs ganze Land. Sein Lebenslauf war beeindruckend, aber die Zirkusdirektoren hatten anscheinend Wahrnehmungsstörungen.
Von einem Mischkonzern, der dafür bekannt war, daß er sein journalistisches Personal ziemlich schlecht behandelte, bekam er endlich ein konkretes Angebot für ein Zusammentreffen. Ein Abendessen für vier Personen in einem Lokal nach Williams Wahl. Außerhalb Londons, schlugen sie vor. Auf Williams Kosten.
Es war mittlerweile der Donnerstag seiner letzten Woche bei der Voice. Sobald die Samstagszeitung draußen war, war für ihn Feierabend. Er nahm die Selbsteinladung des Mischkonzerns mit philosophischer Gelassenheit hin und bestellte in einem Restaurant südlich von Oxford, direkt an der Themse, einen Tisch. Sein für Essen und Trinken zuständiger Redakteur hatte einen Monat lang von dem Lokal geschwärmt.
Der Rennsportredakteur der Voice hatte nach einer Reihe telefonischer Anfragen den vielversprechenden Dennis Kinser endlich ausfindig gemacht, und da er nicht ahnte, daß dieser Rotstiftfetischist von Chefredakteur ihn nur noch bis Samstag schikanieren konnte, hatte er sich tatsächlich zwecks Erleuchtung durch persönliche Gegenüberstellung zu einer Hundert-Kilometer-Fahrt aufgerafft.
Wenn er sich Mühe gab, war der Rennsportredakteur einer schmerzhaft genauen Einschätzung von Menschen und Pferden fähig — nur darum hatte sich Bill Williams überhaupt mit ihm abgegeben. Der Rennsportredakteur erkannte Schwachstellen und nannte sie beim Namen, und häufig genug behielt er recht.
Er sah Schwachstellen bei Dennis Kinser, die andere vielleicht für Stärken gehalten hätten und deren erste ein überwältigendes Selbstvertrauen war. Kinsers erstes Lebensziel war es, König des Turfs zu werden — danach dann: der ganzen Welt.
Der Rennsportredakteur hörte sich das Geprahle müde und nüchtern an und machte sich auf einem Spiralblock Notizen in Kurzschrift, als sei der Kassettenrekorder noch nicht erfunden. Er hätte Kinser als einen von Neid zerfres-senen, wichtigtuerischen, selbstherrlichen Wundermittelverkäufer beschrieben, wäre ihm nicht vollkommen klar gewesen, daß der kleine Rotstiftteufel ihm nur die Bezeichnung» ehrgeizig «würde durchgehen lassen.
Der dreißigjährige Dennis Kinser hatte einen Spielplan für sein Leben entwickelt, der einen schnellen Aufstieg auf der Leiter des Ruhms vorsah, bis er mit jeder erfolgreichen Berühmtheit auf du und du stand. Er würde jedem ererbten Titel mit verhaltenem Respekt begegnen. Er würde Gefälligkeiten erweisen, die die Empfänger seiner Güte zu entsprechenden Gegenleistungen zwingen würden. Er brauchte ein erstes öffentliches Sprungbrett für diesen geplanten Aufstieg, und der Leitartikel in den Sportseiten der Cotswold Voice würde ihm diese Hilfestellung geben.
Er erzählte dem Rennsportredakteur mit einer Spur trotzigen Stolzes, daß er zu kräftig gebaut sei, um es als Springjockey bis an die Spitze zu schaffen, und daß er deshalb sechs Jahre als Stallbursche gearbeitet, die obligatorischen zwei Pferde versorgt und in einem schäbigen Gasthaus gewohnt habe.
«War das auch ein Teil des Spielplans?«erkundigte sich der Rennsportredakteur.
«Klar doch«, log Kinser.
Der Rennsportredakteur notierte sich auf seinem Block:
«Wenn man sich mit diesem Knaben anfreunden will, ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. «Laut sagte er:»Was haben Sie als nächstes vor?«
Kinser gab ihm erschöpfend Antwort. Er würde die Besitzer der Pferde, die er gepflegt hatte, beschwatzen, ihm einige der Tiere zum Training zu schicken. Ihre Pferde, so würde er ihnen lächelnd versichern, hätten auf Grund seiner kenntnisreichen Pflege gesiegt. Dann würde er die Eignergemeinschaften allgemein bekanntmachen und über den grünen Klee loben und alle Anteilseigner mit offenen Armen willkommen heißen. Man würde ihm eine Trainerlizenz erteilen, weil er alle drei der geforderten offiziellen Kurse der British Racing School absolviert habe — Pferdepflege, Geschäftsführung und Personalmanagement.
«Ein Intrigant ersten Ranges«, notierte sich der Rennsportredakteur und schrieb am Abend dann einen seiner allerbesten Artikel für die Voice nach dem Motto: im Zweifel
— den dieser selbst wachgerufen hatte — für Kinser.
Bill Williams, der am nächsten Tag, dem Freitag, immer noch Chefredakteur war, ging durch die stille Redaktionsetage, die brillanten Seiten unterm Arm, und zollte seinem Rennsportredakteur aufrichtiges Lob. Dann rief er seine Leute zusammen und erklärte ihnen ohne Emotionen, daß von Sonntag an ein anderer Chefredakteur die Zeitung leiten werde.
Bill Williams, dessen verschrobener Vater ihn mit Absalom, Elvis und da Vinci belastet hatte, hatte seine in billigen Mietwohnungen und staatlichen Schulen zugebrachten Jugendjahre darauf verwandt, seinen Verstand zu verheimlichen, um nicht von seinen Mitschülern gepiesackt zu werden. Seine Lehrer hatten ihm eine rätselhafte Begriffsstutzigkeit attestiert: Da sie selbst nicht dumm waren, sahen sie gelegentlich ein Aufblitzen unterdrückter Intelligenz und stimmten einmütig ein» Ich habe es mir doch immer gedacht «an, als A. E. da V. Williams gegen ihre mäßigenden Ratschläge darauf beharrte, das höchste Ziel anzusteuern, sich für Cambridge zu bewerben, mit Stipendien zugeschüttet wurde und anschließend mit einer Handvoll Einser und Doktortitel dastand.