Jeden Morgen stand Martin Retsov müde unter der Dusche, wusch sich den klebrigen Schweiß vom Leib und wünschte, er könnte auch sein Unterbewußtsein so mühelos ausspülen. Jeden Tag, wenn er in seinen Wagen stieg, warf er sein nächtliches Selbst ab und blickte in die Zukunft. Er sah Fohlen zur Welt kommen, beobachtete sie, während sie älter wurden, verfolgte ihr Schicksal bei der Auktion und darüber hinaus. Er hätte den Trainern besser, als sie selbst es vermochten, Auskunft über die Abstammung, Geschichte, Laufbahn und das Talent eines jeden Pferdes geben können, das er durch Thoroughbred Foodstuffs zu sehen bekam.
Nach annähernd drei Jahren hatte er viele Bekanntschaften gemacht — er war kein Mann, der Freundschaften schloß. Er kannte jedes Pferd in seinem weiten Umkreis und Hunderte, die aus seinem Gebiet verkauft worden waren. Er war der tüchtigste Vertreter seiner Firma. Und sogar seine Alpträume wurden endlich seltener.
Eines Abends zu Anfang des Frühlings nahm er Johnnie Duke mit. Einen Anhalter, einen großen, dünnen, blonden Jungen, der kaum älter als zwanzig zu sein schien. Er trug ausgewaschene Jeans und eine alte Lederjacke und hatte eine Reisetasche aus Segeltuch mit ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln bei sich. Martin Retsov, der ausnahmsweise einmal mitteilsam war, hielt ihn für einen
Collegestudenten und fand sich bereit, ihn sechzig Kilometer bis zur nächsten Stadt mitzunehmen.
«Habe ich Sie schon mal gesehen?«fragte er halb verwirrt, als der junge Mann sich neben ihn auf den Beifahrersitz setzte.
«Glaub’ ich nicht.«
«Hm. «Er dachte darüber nach.
«Doch, ich habe Sie schon mal gesehen. Vor ein oder zwei Tagen. Wo könnte das gewesen sein?«
Der junge Mann ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann sagte er:»Ich stehe ziemlich regelmäßig hier an der Straße. Vielleicht haben Sie mich gesehen, als ich den Daumen hob.«
Martin Retsov nickte mehrmals.»Ja, ja. Das ist es. «Er entspannte sich in seinem Sitz, froh darüber, das kleine Rätsel gelöst zu haben. Er hatte die Dinge gern geregelt.»Da habe ich Sie also gesehen. Am Straßenrand. Mehr als einmal.«
Der junge Mann nickte kurz und sagte, er sei froh, daß Martin für ihn angehalten hätte, weil er eine Verabredung mit seiner Freundin habe.
«Ich nehme nicht oft Anhalter mit«, sagte Retsov und dachte mit einiger Erheiterung, daß drei ruhige Jahre ihn weich gemacht haben mußten.
Sie fuhren in freundschaftlicher Stimmung acht Kilometer weit und kamen an den weiß eingezäunten Koppeln eines florierenden Gestüts vorbei. Martin Retsov warf einen schnellen, taxierenden Blick auf die kleine Gruppe von Tieren, die sich an dem frischen Frühlingsgras gütlich tat, behielt seine Gedanken aber für sich.
Es war Johnnie Duke, der sagte:»Schon merkwürdig, daß man nie ein geschecktes Vollblut zu Gesicht bekommt.«
«Sie verstehen etwas von Pferden?«fragte Martin Retsov überrascht.
«Klar doch. Bin mit Pferden groß geworden.«
Martin Retsov fragte ihn, wo das gewesen sei, aber der junge Mann antwortete ausweichend, er hätte Schwierigkeiten zu Hause gehabt und wäre Hals über Kopf weggegangen, und er wolle nicht darüber reden. Martin Retsov lächelte. Er setzte Johnnie Duke in der nächsten Stadt ab und fuhr weiter seinem Ziel entgegen, und erst, als er anhielt, um zu tanken, verschwand sein Lächeln so abrupt wie die Investoren in einer Rezession.
Johnnie Duke hatte seine Brieftasche gestohlen. Retsov hatte sie immer in der Innentasche seines Jacketts, und dieses Jackett hatte dank der Leistungsfähigkeit der Heizung auf dem Rücksitz des Wagens gelegen. Er erinnerte sich daran, daß Johnnie Duke seine Reisetasche auf dem Boden hinter den Vordersitzen verstaut hatte, und er erinnerte sich daran, wie er sich zurücklehnte, um sie dahinter hervorzuholen. Sein zerfurchtes Gesicht verhärtete sich zu etwas, das seine Kunden nie zu Gesicht bekommen hatten, und die Augen glitzerten so schmal und gleißend wie Eisbröckchen. Der Betrag, den er verloren hatte, war gering im Vergleich zu der Kränkung seines Selbstbewußtseins.
Mehrere Tage lang fuhr er durch sein Gebiet und suchte aktiv nach Johnnie Duke, versuchte sich an die Einzelheiten ihrer gemeinsamen Fahrt zu erinnern. Das Zögern, mit dem Martin gesagt hatte, er habe ihn schon einmal gesehen. Die Weigerung zu sagen, woher er kam. Die Gewandtheit, mit der er die Brieftasche erspäht und an sich gebracht hatte. Martin Retsov suchte ihn entschlossen, aber erfolglos, und nach zwei oder drei Wochen akzeptierte er schließlich die Tatsache, daß sich der junge Mann in einen anderen Bezirk abgesetzt haben mußte, wo keine erzürnten Opfer mit ihren Autos herumkurvten und ihn mit scharfen Augen erspähen konnten.
Regelmäßig einmal im Monat fuhr Retsov zu dem entlegensten Gestüt in seinem Gebiet, und eines Abends, noch früh, als er gerade von dort wieder losfuhr, sah er Johnnie Duke wieder. Der junge Mann stand am Straßenrand, hob den Daumen und wurde sichtlich stutzig, als er Retsovs Wagen sah.
Martin fuhr sofort neben ihn, bremste, daß die Räder blockierten, öffnete die Tür und stieg mit ruhigen Bewegungen aus. Für einen großen Mann bewegte er sich wie eine gut geölte Maschine, präzise und effektiv; und er hielt eine Waffe in der Hand.»Steig ein«, sagte er.
Johnnie Duke blickte auf den Lauf, der direkt auf seinen Magen zielte, und wurde bleich. Er schluckte, sein Adamsapfel zuckte krampfhaft, und langsam tat er, was ihm befohlen worden war.
«Ich zahle das Geld zurück«, sagte er ängstlich, während Martin Retsov auf den Sitz neben ihm glitt. Er hatte die Waffe jetzt locker in der Hand und zielte zu Boden, aber sie waren sich beide der Tatsache bewußt, daß sich das ändern konnte.
«Ich sollte dich der Polizei übergeben«, sagte Martin Retsov.
Der junge Mann schüttelte bedrückt den Kopf.
«Oder du erledigst statt dessen einen kleinen Job für mich.«
Der junge Mann sah in Martin Retsovs zu Schlitzen zusammengekniffene Augen und zitterte sichtbar.
«Ist das eine Erpressung?«fragte er.
«Ich werde dich bezahlen, wenn du was taugst.«
«Was muß ich machen?«
«Pferde stehlen«, sagte Martin Retsov.
Er legte sich seinen Plan so sorgfältig zurecht wie in den alten Zeiten mit seinem Vater. Er kaufte einen Anhänger für zwei Pferde und einen Wagen, um ihn zu ziehen, beides, ohne daß man die Käufe zu ihm zurückverfolgen konnte. Dann brachte er Wagen und Anhänger in einer Garage in der Stadt unter. Er entschied sich gegen den großen Typ von Pferdetransporter, den er mit seinem Vater benutzt hatte, vor allem wegen der Alpträume mit diesen Rädern. Außerdem war er sich nicht sicher, ob sein neuer Lehrling für langfristige Projekte taugte. Sie würden einen Probelauf machen — einen Test, dachte Martin Retsov, bevor er eine feste Partnerschaft für die Zukunft anbot.
Johnnie Duke hatte Martin Retsovs Offenlegung seiner Berufung mit einem breiten, erleichterten Grinsen quittiert.
«Klar doch«, sagte er.»Ich kann Pferde stehlen. Welche?«
«Hier in der Gegend ist das gar nicht so einfach«, sagte Martin Retsov.»Trainingsställe und Gestüte haben gute Sicherheitsvorkehrungen. «Aber er kannte sie alle; er hatte sie drei Jahre lang eingehend studiert.
Er gab Johnnie Duke eine Liste von Dingen, die er kaufen sollte, und etwas Geld für sich selbst, und zwei Tage später inspizierten sie gemeinsam die Schraubenschlüssel und die Stahlsäge.
«Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte Martin Retsov.
«Die Sache steigt morgen nacht.«
«So bald schon?«
Martin Retsov lächelte.»Wir holen uns zwei Zuchtstuten. Eine steht kurz vor dem Abfohlen. Wir wollen sie in Sicherheit wissen, bevor es soweit ist.«