«Na komm schon, Mädchen. Komm schon.«
Ein leises, erfreutes Wiehern ertönte, und irgendwo außer Sichtweite bewegte sich etwas. Dann kamen sie langsam und fragend heran, bewegten sich auf die menschliche
Stimme zu. Sie fraßen die Nüsse, die man ihnen hinhielt, und machten keine Probleme, als die beiden Männer nach ihren Halftern griffen.
«Du gehst vor«, sagte Martin Retsov leise zu Johnnie Duke.»Ich bin gleich hinter dir.«
Sie gingen lammfromm mit, die beiden großen Stuten, die dick waren von dem vierbeinigen Vermögen, das sie trugen. Durch das Tor und die Straße hinunter zum Transporter. So leicht wie eh und je, dachte Martin Retsov, man mußte nur wissen, wonach man Ausschau hielt. Johnnie Duke führte seine Stute in den Pferdeanhänger und machte sie dort fest.
Und das war der Augenblick, in dem der Alptraum von neuem begann. Der Augenblick, in dem die Lichter aufflammten und Martin Retsovs ans Dunkle gewöhnte Augen blendeten. Der Augenblick, als der Mann sich vor ihm aufbaute. Derselbe Mann. Das Gesicht aus den Träumen. Dasselbe gefühllose Gesicht, dieselben dunklen Kleider, die ranghohen Abzeichen.
«Martin Retsov«, sagte er,»ich verhafte Sie.«
Martin Retsov hörte nicht zu. Ihm schoß nur immer wieder der eine wilde Gedanke durch den Kopf, daß dies einfach nicht wahr sein konnte. Dieser spezielle Kunde würde ihn nie verraten. Nie.
Die Polizei nahm ihm die Stute ab, ohne daß er Widerstand leistete, und legte Martin Retsov Handschellen an.
«Wieso sind Sie hier?«fragte er tonlos.
«Wir suchen schon seit drei Jahren nach Ihnen«, sagte der Polizist mit blasierter Selbstgefälligkeit.»Vor ein paar Wochen haben wir Sie gefunden. Aber wir hatten keine schlüssigen Beweise gegen Sie, also haben wir Sie seither im Auge behalten.«
Johnnie Duke stieg aus dem Anhänger, und Martin Retsov dachte, wie hart es für den Jungen sein mußte, gleich beim ersten Job erwischt zu werden. Der kalte Polizist ging mit befriedigter Miene auf ihn zu.
Er zog keine Handschellen aus der Tasche. Er schlug Johnnie auf die Schulter.
«Gut gemacht, Sergeant Duke«, sagte er.
Eine Möhre für den Fuchs
1970 bat mich die angesehene amerikanische Zeitschrift Sports Illustrated völlig unerwartet um eine Kurzgeschichte — Länge und Thema waren mir freigestellt. Ich hatte bis dahin noch nie versucht, eine Kurzgeschichte zu schreiben, aber >Eine Möhre für den Fuchs< muß den Herausgebern wohl gefallen haben, denn sie luden mich nach Lexington ein, wo das gesamte Team von Sports Illustrated versammelt war, um über das Kentucky Derby von 1972 zu berichten.
Ich wurde beauftragt, für die Ausgabe der Sports Illustrated zum Kentucky Derby des nächsten Jahres eine Derby-Story zu schreiben.
Chick stand mit der Möhre in der Hand da und schwitzte. Sein Kopf war schwummrig, seine Füße auf dem Boden konnte er nicht spüren, und in seinen Ohren hämmerte der Puls. Ein klebrig-grüner Schmerz zitterte in seinem Gedärm.
Diese Geschichte machte ihn krank.
Die Uhrzeit: fünfzig Minuten vor Sonnenaufgang. Die Temperatur: kalt. Der rauhe, wirbelnde Wind räusperte sich gerade, um dann um so grimmiger zu blasen, und eine schwere Decke von Nimbostratus-Wolken machte der ersten Andeutung von Licht jeden Zoll des Himmels streitig. In den sauberen Boxen um den Stallhof herum trat eines der dösenden Pferde gelegentlich mit einem Huf gegen eine Holzwand, klirrte an einer Kette, nieste aus einer feuchten schwarzen Nüster den Heustaub.
Chick war spät dran. Zwei Stunden zu spät. Man hatte ihm aufgetragen, dem schlaksigen Fuchs seine Möhre um vier Uhr morgens zu geben, aber um vier Uhr morgens hatte es draußen nur so geschüttet — ein harter, schräg fallender Regen, der einen binnen einer Minute bis auf die Haut durchnäßte, und Chick war der Meinung, es würde zu schwierig werden zu erklären, warum man um vier Uhr morgens patschnaß war. Chick war der Meinung gewesen, besser abzuwarten, bis der Regen aufhörte, es würde ja doch keine Rolle spielen. Vier Uhr, sechs Uhr, war doch egal, Chick wußte es immer besser als alle anderen.
Er war ein dünner, mürrischer Neunzehnjähriger, der immer das Gefühl hatte, die Welt schulde ihm mehr, als er bekam. Er war ein übellauniges, streitsüchtiges Kind gewesen und ein aggressiv-rebellischer Jugendlicher. Die verstockte Geisteshaltung, die daraus resultierte, war genau das, was ihm nun, wo er erwachsen war, jede Aussicht auf Erfolg nahm. Nicht daß Chick dem zugestimmt hätte, natürlich. Chick stimmte niemals etwas zu, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Immer wußte er alles besser, der Chick.
Auf die Schärfe der körperlichen Symptome der Angst war er nicht gefaßt gewesen. Seine übliche Einstellung gegenüber jeder Form von Autorität war Verachtung (und die Autorität war ihm bisher noch kein einziges Mal über sein verdrossenes Maul gefahren). Pferde hatten ihm nie angst gemacht, weil er quasi im Sattel geboren war und in jungen Jahren gelernt hatte, mit herablassender Leichtigkeit alles auf vier Beinen zu beherrschen. Im Herzen glaubte er, daß eigentlich niemand besser ritt als er. Er irrte sich.
Er blickte sich ängstlich über die Schulter, und der wühlende Schmerz in seinem Bauch verschlimmerte sich jäh. Er verspürte den heftigen Drang, sich in die Hose zu ma-chen. So etwas darf einfach nicht passieren, dachte er verzweifelt. Er hatte davon gehört, daß Angst bei manchen Leuten auf den Darm drückte. Er hatte es nicht geglaubt. So etwas konnte einfach nicht passieren. Aber jetzt fürchtete er ganz plötzlich, daß es doch passieren konnte. Er spannte verzweifelt all seine Muskeln an, und der Krampf ging langsam vorüber. Als es vorbei war, war er von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, und er hatte keinen Tropfen Speichel mehr im Mund.
Das Haus war dunkel. Oben hinter dem schwarzen, geöffneten Fenster, wo der helle Vorhang im Luftzug wehte, schlief Arthur Morrison, der Trainer der dreiundvierzig Rennpferde des Stalls. Morrison hatte einen notorisch leichten Schlaf. Seine Ohren waren hellhöriger als die eines halben Dutzends Wachhunde, sagten seine Stallburschen.
Chick zwang sich, in den von diesem Fenster aus einsehbaren Bereich vorzutreten, um die zehn ungeschützten Schritte zu dem Stall des Fuchses zu machen.
Wenn der Chef aufwachte und ihn sah… o Gott, dachte er wütend, so hatte er sich die Sache nicht vorgestellt. Bloß ein lausiger Gang den Hof runter, um dem schlaksigen Fuchs eine Möhre zu geben. Schuldgefühle und Angst und Verrat. Sie schlichen sich an seinem höhnischen Geist vorbei und brachen sich durch seine Nerven Bahn.
Er konnte nichts Ungewöhnliches an der Möhre entdek-ken. Sie war nicht in zwei Hälften geschnitten und auch nicht ausgehöhlt worden, um sie mit Drogen vollzupacken und wieder zusammenzubinden. Er hatte versucht, das dicke Ende wie einen Stöpsel rauszuziehen, und auch das hatte nicht funktioniert. Die Möhre sah aus wie jede andere blöde Möhre auch, wie die Möhren, die unter dem Küchenmesser seiner Mutter zu Eintopf verarbeitet wurden. Eine blöde Möhre, die man jedem blöden Pferd geben konnte. Keine sehr frische, saftige Möhre und auch keine besonders alte Möhre, die schon knotig und holzig war. Bloß irgendeine blöde, ganz normale Möhre.
Aber Fremde schlugen einem für gewöhnlich nicht vor, einem ganz bestimmten Pferd mitten in der Nacht irgendeine blöde Möhre zu geben. Sie gaben einem nicht mehr Geld, als man in einem halben Jahr verdiente, wenn man sagte, man würde es machen. Nicht jede blöde Möhre kam sorgfältig in Zellophan verpackt in einem leeren Käsecrackerpaket daher, das einem ein Fremder auf einem Parkplatz nach Einbruch der Dunkelheit in einer Stadt zehn Kilometer von den Ställen entfernt in die Hand drückte. Man gab nicht mitten in der Nacht einem Fuchs, der elf Stunden später in einem hochklassigen Jagdrennen als Favorit an den Start gehen sollte, irgendeine blöde Möhre.