Chick war schwindlig, weil er zu lange den Atem angehalten hatte, als er endlich die zehn auf Zehenspitzen zurückgelegten Schritte zum Stall des Fuchses hinter sich hatte. Er versuchte, nicht zu husten, nicht zu stöhnen und der würgenden Anspannung auch nicht mit einem Schluchzen Luft zu machen, schloß seine verschwitzten Finger um den Riegel und begann, diesen vorsichtig und ängstlich Zentimeter um Zentimeter zurückzuschieben.
Tagsüber warf er die Bolzen mit einem gekonnten, smarten Klacken auf und zu. Sein Körper zitterte in der Dunkelheit, solche Anstrengung kostete es ihn, denselben Bolzen nun millimeterweise zu bewegen.
Mit einem kaum wahrnehmbaren Knirschen löste sich der Riegel, und die obere Hälfte der geteilten Tür schwang langsam nach außen. Kein Quietschen von den Angeln, nur das Wispern von Metall auf Metall. Chick holte tief Luft — eher ein qualvolles, in der Kehle kitzelndes, unterdrücktes Ächzen —, bevor er zwischen zusammengebissenen Zähnen ausatmete. Sein Magen begann abermals bedrohlich zu schlingern. Angewidert versuchte er abermals hastig, sich unter Kontrolle zu bringen, und stieß in Panik einen Arm durch den dunklen, offenen Raum.
Der Fuchs in der Box döste im Stehen. Der veränderte Luftzug, der durch die geöffnete Tür kam, bewegte die empfindsamen Härchen um sein Maul herum, und sein Geisteszustand wechselte von Halbbewußtsein zur Neugier. Er konnte die Möhre riechen. Er konnte auch den Mann riechen, konnte die Furcht im Schweiß des Mannes riechen.
«Na, komm schon«, flüsterte Chick verzweifelt.»Komm endlich, mein Junge.«
Das Pferd bewegte erst seine Nase auf die Möhre zu, dann endlich und widerstrebend auch seine Füße. Gleichgültig nahm es die Möhre aus der zitternden Hand des Mannes, saugte sie mit seinen schwarzen beweglichen Lippen ein und zerbiß sie mit einem lustlosen Schmatzen und ausholenden Kieferbewegungen. Als es alle zermalmten Stücke der Möhre hinuntergeschluckt hatte, streckte es auf der Suche nach mehr den Kopf vor. Aber es gab nicht mehr, nur das hellere Quadrat des Himmels, das sich wieder verdunkelte, als die Tür zuschwang, nur die leisen Geräusche des Riegels, der wieder vorgelegt wurde, nur den dahinschwindenden Geruch des Mannes und den sich verflüchtigenden Geschmack der Möhre. Das Pferd vergaß die Sache sofort und drehte sich langsam um, so daß es mit der Hinterhand zur Tür stand, weil das seine gewohnte Position war, und nach ein oder zwei Minuten blinzelte es langsam, entlastete das rechte Hinterbein und verfiel wieder in seinen vorherigen Dämmerzustand.
Unten in seinem Magen sickerte das flüssige Betäubungsmittel, das man bis zum Sättigungspunkt in die Möhre injiziert hatte, aus den verdauten Möhrenzellen heraus und wurde von seinem Blut absorbiert. Der Prozeß ging langsam und stetig vor sich. Und man hatte ihn zwei Stunden zu spät in Gang gesetzt.
Arthur Morrison stand in seinem Stallhof und sah zu, wie seine Männer den Fuchs in den Pferdetransporter luden, der ihn zum Rennen bringen sollte. Er verfolgte die Vorgänge mit gewohnheitsmäßig kritischer Miene, die in keinem Verhältnis zu seiner inneren Befriedigung stand. Der Fuchs war das beste Pferd in seinem Stalclass="underline" ein regelmäßiger Gewinner, beliebt beim Publikum, eine Quelle des Ansehens wie der Einkünfte. Das große Jagdrennen in Cheltenham war ihm wie auf den Leib geschnitten, und Morrison war ein Meister seines Fachs, wenn es darum ging, ein Pferd für ein ganz bestimmtes Rennen in Hochform zu bringen. Niemand zog es ernsthaft in Betracht, daß der Fuchs geschlagen werden könnte. Alle Zeitungen hatten ihn durch die Bank zum Favoriten gekürt, und die Buchmacher boten zaghaft eine Quote von sechs zu vier. Morrison gestattete sich einen warmen Schimmer in den Augen und den Hauch eines Lächelns auf den Lippen, als die Männer die schweren Türen des Pferdewagens zuwarfen und ihn aus dem Hof steuerten.
Diese Geste war ungewöhnlich. Normalerweise zeigte seine Miene eine Mischung aus Konzentration und Mißbilligung zu etwa gleichen Teilen. Beide Eigenschaften trugen beträchtlich zu seinem Erfolg als Rennpferdtrainer sowie zu seiner Unbeliebtheit als Mensch bei, eine Tatsache, der sich Morrison durchaus bewußt war. Es scherte ihn nicht im mindesten, daß ihn so gut wie niemand leiden konnte. Erfolg und Respekt galten ihm viel mehr als Liebe, und alle, die das anders sahen, betrachtete er mit ungläubiger Verachtung.
Auf der anderen Seite des Hofs sah Chick mit seiner gewohnt finsteren Miene dem Pferdetransporter nach. Morri-son runzelte verärgert die Stirn. Der Junge war eine Nervensäge, dachte er. Immer nörgelnd, immer unverschämt, immer darauf bedacht, mehr Geld herauszuholen. Morrison hielt es für ungesund, einem Jungen das Leben zu leicht zu machen: Ein bißchen Härte war gut für die Seele. Wo allerdings die Härte begann, darüber gingen Morrisons und Chicks Meinungen weit auseinander.
Chick sah das Stirnrunzeln seines Chefs und beobachtete Morrison voller Angst; seine Schuldgefühle lasteten auf ihm wie ein Felsblock. Er konnte es nicht wissen, dachte er verzweifelt. Er konnte nicht einmal vermuten, daß irgend etwas mit dem Pferd nicht stimmte, sonst hätte er es nicht zum Rennen fahren lassen. Außerdem hatte das Pferd auch ganz gut ausgesehen. Absolut wie immer. Vielleicht war gar nichts dran gewesen an der Möhre… vielleicht war es sogar die falsche Möhre gewesen… Chick sah sich beklommen um und wußte sehr gut, daß er sich etwas vormachte. Das Pferd mochte zwar ausgesehen haben, als sei alles in Ordnung mit ihm, aber das war es nicht.
Arthur Morrison sattelte sein Pferd zum Rennen auf, und Chick stand nervös zehn Schritte entfernt dabei, beobachtete ihn und versuchte sich in der aufgeregten Menge zu verstecken, die herbei drängte, um den Favoriten näher in Augenschein nehmen zu können. Vor der Sattelbox des Fuchses hatte sich eine größere Schar von Bewunderern zusammengefunden als vor jeder anderen der sieben Läufer, und die Buchmacher hatten ihre Quoten verringert. Hinter Morrisons konzentrierter Miene wollte ein Fünkchen Sorge immer beharrlicher ans Tageslicht drängen. Er zog den Gurt stramm und justierte automatisch die Schnallen, während er sich eingestehen mußte, daß seine Befriedigung sich in Angst verwandelt hatte. Das Pferd war nicht es selbst. Kein lebhaftes Stampfen der Füße, kein spielerisches Knabbern mit den Zähnen, keine Reaktion auf die Menschenmenge; dabei führte sich dieses Pferd in der Öffentlichkeit für gewöhnlich wie ein Filmstar auf. Es konnte ihm nicht gut gehen, und wenn es ihm nicht gut ging, würde es nicht gewinnen. Morrison preßte die Lippen aufeinander. Wenn es dem Pferd nicht gut genug ging, um zu gewinnen, war es ihm lieber, es lief überhaupt nicht. Bei solchen Wettquoten geschlagen zu werden wäre eine Schande. Eine Niederlage von zu großen Ausmaßen. Ein Gesichtsverlust. Vor allem, weil Morrisons ältester Sohn Toddy der Jockey sein sollte. Die Zeitungen würden sie beide in Stücke reißen.
Morrison kam zu einer Entscheidung und schickte nach dem Tierarzt. Die Regeln des Jagdrennens in England besagten ziemlich deutlich, daß ein Pferd, das als Starter für ein bestimmtes Rennen gemeldet worden war, in der letzten Dreiviertelstunde vor dem Start nur aufgrund der Diagnose eines Tierarztes zurückgezogen werden durfte. Der Tierarzt der Cheltenham-Rennbahn kam und sah sich den Fuchs an und führte ihn nach kurzer Beratung mit Morrison zu einer abgeschirmteren Box, wo er seine Temperatur maß.
«Seine Temperatur ist normal«, versicherte der Tierarzt Morrison.
«Es gefällt mir nicht, wie er aussieht.«
«Ich kann nichts finden.«
«Es geht ihm nicht gut«, beharrte Morrison.
Der Tierarzt schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Das Pferd zeigte keine sichtbaren Symptome für irgend etwas, und er wußte, daß er selbst in Schwierigkeiten kam, wenn er Morrison erlaubte, einen so heißen Favoriten aus so dürftigen Gründen zurückzuziehen. Nicht nur das — das war jetzt das dritte Pferd, um dessen Zurückzie-hung man ihn heute nachmittag gebeten hatte. Er hatte die beiden anderen Gesuche abgelehnt, und der Fuchs befand sich keineswegs in einem schlechteren Zustand.