Er dachte an das Bündel Geldscheine, das der Fremde ihm zusammen mit der Möhre gegeben hatte. Vorschuß. Der Fremde hatte ihm vertraut, was er von den wenigsten Leuten gewöhnt war. Er hatte sich im Badezimmer eingeschlossen und die Scheine gezählt, hatte sie zweimal gezählt, und sie waren alle da, genau wie der Fremde versprochen hatte. Noch nie in seinem Leben hatte er soviel Geld besessen… Vielleicht würde er es auch nie wieder, dachte er. Und wenn er Arthur Morrison und Toddy von dem Doping erzählte, würde er dieses Geld hergeben müssen, das Geld und anderes mehr.
Ein Versteck für das Geld zu finden, war nicht leicht gewesen. Das Bündel benutzter Geldscheine hatte sich als ziemlich sperrig erwiesen, und er wollte nicht das Risiko eingehen, daß seine Mutter bei ihrem gewohnheitsmäßigen Herumschnüffeln in seinen Sachen auf das Geld stieß. Er hatte das Problem vorübergehend gelöst, indem er die Geldscheine zusammengerollt und in eine neonfarbene, runde Dose gesteckt hatte, in der früher mal Karamelbonbons gewesen waren, die er aber seit Jahren für Bürsten und Schuhputzzeug benutzte. Er hatte das Geld mit einem Lappen zugedeckt und die Dose wieder auf das Regal in seiner Schlafkammer geknallt. Irgendwann würde er sich wohl ein sichereres Versteck suchen müssen. Und er würde vorsichtig sein müssen, wenn er das Geld ausgab — wenn er einfach hinging und sich ein Auto kaufte, würde es zu viele Fragen geben. Er hatte immer ein Auto gewollt… und jetzt hatte er das Geld dafür… und er konnte sich den Wagen trotzdem nicht kaufen. Es war nicht fair. Absolut nicht fair. Wenn sie ihm mehr bezahlt hätten… genug für ein Auto.
Oben auf dem strategisch günstig gelegenen Bereich der Tribüne, der für Trainer und Jockeys reserviert war, legte ein kleiner Mann mit heißen, dunklen Augen Chick eine Hand auf den Arm und sprach ihn an. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Chick ihn wirklich hörte.
«… Ich sehe, Sie sind hier, und Sie sind frei, werden Sie es reiten?«
«Was?«fragte Chick geistesabwesend.
«Mein Pferd im Hürdenrennen der Sieglosen«, sagte der kleine Mann ungeduldig.»Wenn Sie nicht wollen, kann ich natürlich.«
«Das habe ich nicht gesagt«, murmelte Chick.»Fragen Sie den Chef. Wenn er sagt, ich kann, na, dann kann ich.«
Der kleinwüchsige Trainer ging zu der Tribüne, von der aus Arthur Morrison den Fuchs aufmerksam durch seinen
Feldstecher beobachtete, und stellte dieselbe Frage, die er Chick gestellt hatte.
«Chick? Ja, er kann für Sie reiten, wenn Sie ihn haben wollen. «Morrison schenkte dem anderen Trainer zwei volle Sekunden seiner Aufmerksamkeit und klebte dann wieder an seinem Feldstecher.
«Mein Jockey hat sich bei einem Sturz im ersten Rennen verletzt«, erklärte der kleine Mann.»Es gibt so viele Läufer im Rennen der Sieglosen, daß wir knapp an Jockeys sind. Da habe ich plötzlich Ihren Jungen da gesehen und ihn spontan gefragt, verstehen Sie?«
«Ja, ja«, sagte Morrison, zu neunzig Prozent desinteressiert.»Seine Fähigkeiten sind mäßig, also erwarten Sie nicht zuviel von ihm. «Der Fuchs hatte keine Spannkraft. Morrison fragte sich niedergeschlagen, ob er einen Husten ausbrütete.
«Mein Pferd wird nicht gewinnen. Man könnte sagen, es ist nur draußen, um Erfahrungen zu sammeln.«
«Ja. Na ja, machen Sie die Sache mit Chick aus. «Mehrere andere Ställe hatten eine Hustenepidemie, dachte Morrison. Der Fuchs hätte sich keinen schlechteren Tag aussuchen können, um sich anzustecken.
Chick, der das Angebot eines Ritts normalerweise mit herablassender Selbstgefälligkeit quittiert hätte, war so geistesabwesend, daß der kleine Trainer es schon bedauerte, ihn gefragt zu haben. Chicks ganze Aufmerksamkeit galt dem Fuchs, der sich ganz zufriedenstellend am Startband aufzustellen schien. Alles in Ordnung, versuchte Chick sich selbst zu beruhigen. Es würde schon gutgehen. Natürlich würde es das. Wie blöd von ihm, sich so aufzuregen.
Der Start und die ersten zwei Hindernisse lagen links von der Tribüne. Da bei dem Jagdrennen ein Startband benutzt wurde und keine Boxen und da es auch keine Startnummern gab, hatte Toddy sich an den Innenrails aufgestellt, um den kürzesten Weg zum Ziel zu haben.
Unten bei den Buchmachern wurden jetzt großzügigere Quoten angeboten, bis hin zu 1:1. Als der Fuchs auf dem Weg zum Start an ihnen vorbeigaloppiert war, hatte er keine besonders gute Figur gemacht. Die Buchmacher blickten dem Rennen daher ein wenig hoffnungsvoller entgegen. Sie hatten einen bösen Tag erwartet, aber wenn der Fuchs verlor, würden sie Gewinn machen. Einer von ihnen würde ungeheuren Gewinn machen — genauso wie er ungeheure Verluste einstecken mußte, falls der Fuchs siegte.
Alexander McGrant, mit wirklichem Namen Harry Buskins, hatte etwas Derartiges in der Vergangenheit schon ein oder zwei Mal gemacht. Er spreizte die Finger einer Hand und sah sie bewundernd an. Nicht das leiseste Zittern zu sehen. Und bei solchen Dingen bestand immer das Risiko, daß der Bestochene im letzten Augenblick kalte Füße bekam und die Sache nicht durchzog. Es war immer ein Glücksspiel, klar. Aber diesmal, bei diesem Jungen, da war er sich ziemlich sicher. Man konnte eigentlich nichts falsch machen, wenn man sich einen eitlen kleinen Schnösel mit einem großen Groll aussuchte. Das waren die Käuflichsten. Hundertprozentig.
Harry Buskins war ein gerissener Mittvierziger aus dem Londoner East End, für den es niemals eine klare Trennungslinie zwischen Recht und Unrecht gegeben hatte. Wenn sich ab und zu ein netter kleiner Schwindel einfädeln ließ, nun, warum nicht — das war seine Devise. Die Umsatzsteuer machte das Wettgeschäft kaputt… Man mußte schnelle Scheinchen machen, wo man konnte. Und nichts war so sicher oder so schnell wie Knete für einen ultraheißen Favoriten zu scheffeln, wenn man wußte, daß man nicht würde auszahlen müssen.
Unten am Pfosten legte der Starter die Hand auf den Hebel, und die Bänder schnellten in die Höhe. Toddy trat dem Fuchs in die Rippen. Von seinem luftigen Ausguck oben auf der Tribüne nahm der Kommentator seine Ansage auf:
«Und los geht’s! Der erste, der auftaucht, ist der graue…«
Arthur Morrison und Chick sahen mit aus jeweils anderer Art von Angst hämmerndem Herzen zu, und Harry Buskins schloß die Augen und betete.
Toddy trieb den Fuchs sofort unter die ersten drei; das Pferd galoppierte mit kräftigem Schritt, zog am Mundstück und ließ die Hufe über den Boden donnern. Er schien recht ordentlich zu laufen, dachte Toddy. Kräftig. Wie ein Zug.
Das erste Hindernis lag jetzt nur noch hundert Meter vor ihm und kam immer näher. Mit geübtem Auge schätzte Toddy die Distanz ab, wußte, daß der Fuchs genau das richtige Tempo vorlegte, machte sich für den Sprung bereit und gab dem Pferd das Zeichen abzuspringen. Er bekam keine Reaktion. Nichts. Der Fuchs unternahm keinen Versuch, die Muskeln anzuspannen, keinen Versuch, sich mit den Hinterbeinen abzustoßen, keinen Versuch zu zaudern oder das Tempo zu verlangsamen oder das Hindernis auf irgendeine Art und Weise zu umgehen. Eine ungläubige Sekunde lang wußte Toddy, daß ihm eine absolute Katastrophe unmittelbar bevorstand.
Der Fuchs galoppierte geradewegs hinein in das einen Meter dicke, brusthohe, massive Birkenhindernis, und die Wucht des Aufpralls ließ die Zuschauer auf der Tribüne wie aus einem Mund entsetzt aufstöhnen. In einem Wirbel zuckender Beine schlug das Pferd einen Purzelbaum über den Zaun, warf Toddy aus dem Sattel, stürzte auf ihn und rollte über ihn hinweg.
Chick war es, als würde die Welt mit einem Mal grau. Alles verlor seine Farbe, und er war einer Ohnmacht nahe. O Gott, dachte er. O Gott. Toddy.
Der Fuchs erhob sich taumelnd auf die Füße und galoppierte davon. Er folgte den anderen Pferden zum zweiten Hindernis.
Er prallte genauso unvermittelt und ungebremst gegen den zweiten Zaun wie gegen den ersten. Die Menge keuchte und schrie auf. Wieder der Purzelbaum, die von sich gestreckten Beine, der furchtbare Sturz, die sofortige Erholung. Der Fuchs rappelte sich abermals auf und galoppierte weiter.