Der Sportreporter legte den Hialeah-Artikel kopfschüttelnd beiseite. Zweimal in den letzten sechs Wochen hatte Fred es nicht fertiggebracht, überhaupt eine Story zu schreiben. Beide Male hatten sie sich im Büro einen Artikel zusammengestoppelt und den Namen Collyer draufgesetzt, aber zweimal den Abgabetermin zu verschlafen war einmal mehr, als man verzeihen konnte. Ein drittes Mal, und die Sache war gelaufen. Die Chefs murrten lauter denn je über die überzogenen Spesenabrechnungen, und wenn sie rausfanden, daß sie dafür zweimal keine müde Zeile bekommen hatten, würde ihn kein noch so heftiges Pochen auf das Motto» Um der alten Zeiten willen «retten.
Ich habe ihn gewarnt, dachte der Sportreporter mit Unbehagen. Ich habe ihm gesagt, er soll diesmal zusehen, daß er eine wirklich gute Story abliefert. Einen brandheißen Knüller, wie man das früher von ihm kannte. Ich habe ihm gesagt, dieses Derby muß einer seiner größten Erfolge werden.
Fred Collyer meldete sich in dem Motel an, in dem die Zeitung ihm ein Zimmer reserviert hatte. Dort genehmigte er sich drei schnelle Vormittagsstärkungen aus der Flasche, die er in seiner Aktentasche mitgebracht hatte. Die Warnung des Sportreporters schob er in den hintersten Winkel seines Bewußtseins, denn er war sich immer noch sicher, daß er, betrunken oder nüchtern, bessere Artikel schreiben konnte als jeder andere Kommentator in dem Geschäft, wenn er nur eine Story hatte, die der Mühe wert war. Es gab nur einfach keine guten Storys mehr.
Er nahm ein Taxi zu den Churchill Downs. (Taxi, vierundzwanzig Dollar fünfzig, schrieb er unterwegs und zahlte dem Fahrer achtzehn.)
Drei Tage vor dem Derby wirkte die Rennbahn sauber, frisch und erwartungsvoll. Leuchtend rote Tulpen richteten in säuberlichen Kolonnen ihre Blütenblätter einheitlich dem blauen Himmel entgegen, und Flecken grünen Rasens leuchteten wie shampoonierte Teppiche. Ohne sie zu beachten, nahm Fred Collyer den Aufzug zum Dach und trottete die letzten windigen Stufen zu dem großen, verglasten Presseraum über der Tribüne. Dort saßen einige Männer an ihren Schreibmaschinen und hackten die Nachrichten für den kommenden Tag in die Tasten. Draußen standen noch andere, die sich das erste Rennen ansahen, aber die meisten waren in das wichtigste Tagesgeschäft vertieft: zu schwatzen.
Fred Collyer holte sich an der einfachen Bar eine Dose Bier, trug sie an den mit seinem Namen bezeichneten Platz und tauschte mit den Gesichtern, die er von den Bahnen zwischen Saratoga und Hollywood Park kannte, ein paar Hallos. Da er ständig von einem Hotel zum anderen zog und endgültig entwurzelt war, seit Sylvie von seiner Abwesenheit und seiner Trinkerei die Nase so voll gehabt hatte, daß sie mit den Kindern zurück zu ihrer Mutter nach Nebraska gezogen war, betrachtete er die Pressezimmer der Rennbahnen als sein einziges wirkliches Zuhause. Dort fühlte er sich entspannt und wußte, daß man ihn respektierte. Er bemerkte gar nicht, daß die Bewunderung, die ihm die anderen einst gezollt hatten, langsam einem toleranten Mitleid Platz machte.
Er ließ sich ungezwungen auf seinen Stuhl fallen und las eine der vervielfältigten Pressenotizen vom Tage.
«Trainer Harbourne Cressie berichtet, daß Pincer Movements linkes Vorderbein nach einem Spritzer über 800 Meter heute morgen nicht entzündet sei.«
«Nichts dran an dem Gerücht, daß Salad Bowl gestern abend Temperatur hatte, bestätigt Tierarzt John Brewer im Auftrag der Besitzerin Mrs. L. (Loretta) Hicks.«
Na wunderbar, dachte er sarkastisch. Negative Nachrichten waren keine Nachrichten, Derbystarter eingeschlossen.
Er blieb den ganzen Nachmittag im Pressezimmer, trank Bier, diskutierte mit Schreibern, Fotografen, Publizisten und Radioleuten über alles und nichts, hielt unachtsam die Fernsehübertragungen der Rennen im Auge und trat gelegentlich hinaus auf den Balkon, um auf den Ameisenhaufen der Menschenmenge weit unter sich hinabzublicken. Nicht nötig, sich da hinunterzukämpfen, wie er das früher getan hatte, dachte er. Nicht nötig zu versuchen, Leute zu treffen, sie unter vier Augen zu interviewen. Alles und je-der, der irgendwie von Interesse war, kam irgendwann ins Pressezimmer rauf und teilte alles Wissenswerte in leicht verdaulichen Bröckchen mit.
Am Ende des Tages nahm er dankend das Angebot eines Kollegen an, in dessen Mietwagen mit in die Stadt zurückzufahren (Taxi, vierundzwanzig Dollar fünfzig), und am Abend besuchte er, nachdem er in seinem eigenen Zimmer für eine beachtliche Whisky-Grundlage gesorgt hatte, das alljährliche Dinner der Turfwriter’s Association. Die Menschenmenge in dem großen Empfangsraum war durchaus erfreut, ihn zu sehen, und er bewegte sich zwischen der Ansammlung von Presseleuten, Trainern, Jockeys, Züchtern, Besitzern mit Ehefrauen und Freundinnen wie ein Fisch in seinem heimischen Tümpel. Automatisch kippte er vorm Abendessen vier Doppelte on the Rocks und hielt während des Essens und der langen Reden danach einen stetigen Konsum aufrecht. Als er um halb zwölf versuchte, sich von der Tafel zurückzuziehen, hatte er keine Kontrolle mehr über seine Beine.
Das überraschte ihn. Er setzte sich wieder. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er betrunken war. Seine Zunge funktionierte immer noch genausogut wie die der meisten um ihn herum, und für ihn selbst schienen seine Gedanken bestens organisiert zu sein. Aber seine Beine gaben unter ihm nach, als er ihnen sein Gewicht anvertraute, und er war schwerfällig auf seinen Stuhl zurückgeplumpst. Es war schon um einiges später — der große Raum hatte sich beinahe geleert, und die meisten Gäste waren auf dem Heimweg —, als es ihm endlich gelang, genug Kraft aufzubringen, um sich zu erheben.
«Ich scheine ganz schön geladen zu haben«, murmelte er und entschuldigte sich mit einem Lächeln vor sich selbst.
Auf die Rücklehnen der hie und da an den Wänden aufgereihten Stühle gestützt, schwankte er der Tür entgegen.
Von dort taumelte er in den Flur und weiter bis zur Lobby, von wo aus er durch die hin- und herschwingenden Glastüren hinaus in die Nacht stapfte, als steige er imaginäre Stufen hinunter.
Die Abendluft eines kühlen Maitags machte alles noch sehr viel schlimmer. Die Erde schien sich buchstäblich unter seinen Füßen zu drehen. Mit schwerer Schlagseite vollführte er einen Halbkreis, und statt sich auf die geparkten Autos und die wartenden Taxis zuzubewegen, stolperte er kopfüber in die dunkle Steinfront der Mauer neben dem Eingang. Der Aufprall schmerzte und steigerte seine Verwirrung noch. Er legte beide Hände flach auf die rauhe Oberfläche vor sich, preßte dann das Gesicht darauf und konnte doch nicht herausfinden, wo er war.
Marius Tollman und Piper Boles hatten nicht gesehen, daß Fred Collyer vor ihnen gegangen war. Beide schlenderten denselben Weg entlang und plauderten Belangloses — zwei Männer, die der Zufall am Ende eines Abends zusammengeführt hatte. Mit keiner Miene verrieten sie, daß sie einander schon seit Stunden quer durch den Raum bedeutungsvolle Blicke zugeworfen und fast an nichts anderes gedacht hatten als an das vor ihnen liegende Gespräch.
In einem Land, in dem das Buchmachergewerbe gesetzlich zugelassen war, wäre Marius Tollman vielleicht als angesehener, gesetzestreuer Bürger aufgewachsen. Wie die Dinge lagen, hatten seine natürliche Neigung und sein einziges Talent ihn zu einem Leben schneller Beinarbeit geführt, wie sie Muhammad Ali zur Ehre gereicht hätte. Mit Hilfe der einfachen Maßnahme, für zukünftige Rennautoritäten Wetten zu plazieren, solange diese noch jung und töricht waren, blieb er, sobald sie zu Status und Macht gekommen waren, von ihnen unbehelligt; und unter den Junghengsten, die in Richtung Vorstandsetage stürmten, erkannte der gewiefte alte Marius mit noch schärferem Blick den Gewinner als unter den Pferden auf dem Turf.
Die beiden Männer gingen durch die Glastüren und blieben direkt dahinter stehen, wo das Licht aus der Lobby sie voll erfaßte. Marius pflegte niemanden in irgendwelche Ecken zu ziehen, weil das zu verdächtig ausgesehen hätte.