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Auf der Tribüne ließ Marius Tollman kopfschüttelnd sein Fernglas sinken und schnalzte mit der Zunge. Falls Piper Boles kein besseres Rennen hinlegen konnte, wenn er auf Gewinn ritt, was mußte es dann erst für eine Pleite werden, wenn er auf Crinkle Cut verlieren sollte?

Marius dachte an die Zehntausend, die er in die kleine Gaunerei am Samstag investierte. Er hatte noch nicht entschieden, ob er gewissen Leuten im organisierten Verbrechen einen Tip geben sollte, in welchem Falle sie den Einsatz decken würden, ohne daß er selbst noch irgendein Risiko trug, oder ob er auf den größeren Profit setzen sollte, den ihm ein Alleingang einbringen würde. Er ließ seinen asthmatischen Körper auf seinen Platz sinken, besorgt darüber, wie leicht aus einem abgemachten Rennen wieder ein offenes werden konnte.

Blisters Schultz sorgte sich um den Zustand seines Gewerbes, das unter einer schweren Rezession litt.

Blisters Schultz verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Taschendiebstahl, und er hatte die Nase voll von Kreditkarten. In der guten alten Zeit, als er auf dem Schoß seines Großvaters seine Fertigkeiten erlernt hatte, trugen die Männer ihre Portemonnaies in den Gesäßtaschen, so daß die deutlichen Ausbuchtungen für jedermann sichtbar waren. Heutzutage machten diese elenden Hau-Ruck-Diebe den ganzen Markt kaputt: Kaum jemand trug noch mehr als eine Handvoll Dollar mit sich rum, und die, die es doch taten, hatten die Neigung, ihren Mammon in zwei Hälften zu teilen und die größere Portion hinter Reißverschlüssen zu verstecken.

Dreiundfünfzig Jahre hatte Blisters überlebt: fünfundvierzig davon mit Hilfe des Diebstahls. Mehrere kurze Sitzungen hinter Gittern hatte er als Pech verbucht, aber das war noch lange kein Grund, nicht die erstbeste Brieftasche zu stehlen, wenn er wieder draußen war. Er hatte einmal versucht, ehrlich zu werden, aber es hatte ihm nicht gefallen: Er konnte den regelmäßigen Tagesablauf und das schreckliche Gefühl des Arbeitens nicht ertragen. Nach sechs Wochen hatte er seinem gutbezahlten Job den Rük-ken gekehrt und sich dankbar wieder der Unsicherheit zugewandt. Wenn er zehn Dollar stehlen konnte, war er glücklicher, als wenn er fünfzig verdiente.

Um bei Rennveranstaltungen den besten Fang zu machen, mußte man entweder die großen Scheine erspähen, bevor sie verspielt wurden, oder dem großen Gewinner vom Auszahlschalter aus folgen. In beiden Fällen galt es, mit offenen Augen am Totalisator rumzuhängen. Das Problem war, daß zu viele Rennplatzpolizisten diesen modus operandi durchblickt hatten und nun ebenfalls dort herumstanden und nach Leuten Ausschau hielten, die einfach nur rumstanden und Ausschau hielten.

Blisters hatte eine schlechte Woche hinter sich. Bei der vielversprechendsten dicken Brieftasche hatte sich nach einer halben Stunde vorsichtigen Pirschens erwiesen, daß sie wenig Geld, aber viel Pornographie enthielt. Blisters, dessen Geschlechtstrieb nicht übermäßig ausgeprägt war, hatte beides gleichermaßen angewidert.

Seine ersten beiden Arbeitstage hatten ihm lediglich dreiundzwanzig Dollar eingebracht, und fünf davon hatte er auf einer Treppe gefunden. Sein erbärmliches Hintergassenzimmer in Louisville kostete ihn vierzig Dollar pro Nacht, und wenn er Fahrkosten und Mahlzeiten in Rechnung stellte, mußte er seiner Schätzung nach achthundert machen, damit die Reise sich überhaupt lohnte.

Doch er war ein Optimist, und seine Laune hob sich bei dem Gedanken an das Derby. Wenn erst die richtigen Massen strömten, würden seine Geschäfte sicher wieder besser laufen.

Fred Collyers private Prohibition hielt sich bis Freitag. Er fühlte sich besser, als er erwachte, fuhr um halb acht mit dem Taxi raus in die Churchill Downs und schrieb unterwegs seine Unkosten auf. Sie schlossen viele mystische Gegenstände für den vergangenen Tag ein; dem lag die Vermutung zugrunde, daß es für die Redaktion besser war, nicht zu erfahren, daß er Mittwoch nacht sternhagelvoll gewesen war. Er legte auf die angeschwollene Gesamtsumme noch einen Batzen drauf; Bourbon war schließlich teuer, und spätestens Sonntag konnte er wieder tun, was er wollte. Der ursprüngliche Schock über den Blackout hatte sich gelegt, denn während seines im Bett verbrachten Tags waren ihm hie und da Einzelheiten eingefallen, die mit Sicherheit aus der Zeit nach dem Brathuhn stammten. Der Weg vom Dinner ins Bett stellte immer noch eine Lücke dar, aber die Lücke machte ihm keine Angst mehr. Manchmal hatte er das Gefühl, als gäbe es da etwas Wichtiges, an das er sich erinnern sollte, aber er redete sich ein, daß es nicht wirklich wichtig gewesen sein konnte, sonst hätte er es nicht vergessen.

Draußen bei den Ställen hatten sich die Presseleute bereits in Gruppen um die Trainer der höchstgehandelten Derbystarter geschart. Fred Collyer schlenderte auf das Grüppchen um Harbourne Cressie zu, und seine Kollegen machten ihm Platz, ohne auf seine Abwesenheit am vergangenen Tag zu sprechen zu kommen. Das beruhigte ihn: Was auch immer er Mittwoch nacht getan hatte, es konnte nichts Skandalöses gewesen sein.

Die Notizbücher waren gezückt. Harbourne Cressie, ein alter Hase im Geschäft und ein Freund jeglicher Publicity, machte nach jedem Satz eine Pause, um ihnen Zeit zu geben, alles mitzuschreiben.

«Pincer Movement hat gestern abend gut gefressen und ist heute morgen ruhig und gelassen. Wie es aussieht, soll-

ten wir Salad Bowl schlagen, es sei denn, das Geläuf wäre sehr weich am Samstag.«

Allenthalben lächelnde Gesichter. Der Himmel war blau, die Wettervorhersage gut.

Fred Collyer hörte unaufmerksam zu. Er hatte das alles schon mal gehört. Sie alle hatten das alles schon mal gehört. Und wen zum Teufel interessierte das schon?

In einer Konkurrenzgruppe zwei Ställe weiter entfernt bemerkte der Trainer von Salad Bowl gerade, daß sein Hengst nach den Ergebnissen von Hialeah durchaus in der Lage sei, Pincer Movement zu schlagen, und daß er mit jedem Geläuf fertig würde, ob weich oder nicht.

George Highbury zog weniger Presseleute an, da er über Crinkle Cut nicht viel zu sagen hatte. Der Dreijährige war bei verschiedenen Rennveranstaltungen sowohl von Pincer Movement als auch von Salad Bowl geschlagen worden, und niemand erwartete, daß er das Blatt wenden konnte.

Am Freitagnachmittag verbrachte Fred Collyer seine Zeit oben im Pressezimmer und lehnte mannhaft ein paar angebotene Biere ab. (Bewirtung verschiedener Besitzer auf der Bahn, zweiundfünfzig Dollar.)

Piper Boles ritt im sechsten Rennen ein hartes Finish, verlor um einen kurzen Kopf und wäre nachher beinahe vor Hunger ohnmächtig geworden. George Highbury, der davon nichts wußte, bemerkte lediglich mürrisch, daß Boles das Gewicht gemacht hatte, und bestätigte, daß er am nächsten Tag Crinkle Cut reiten würde.

Verschiedene Freunde von Piper Boles flüsterten ihm die nervöse Frage ins Ohr, ob der Plan für morgen immer noch aktuell sei. Piper Boles nickte.»Klar«, sagte er schwach.»In allen Punkten.«

Marius Tollman war erleichtert, Boles besser reiten zu sehen, beschloß aber dennoch, seine Wette abzuwerfen und statt dessen das Syndikat mit einzubeziehen.

Blisters Schultz stahl zwei Brieftaschen mit jeweils vierzehn beziehungsweise zweiundzwanzig Dollar. Zehn davon verlor er bei der Wette auf einen sicheren Tip im letzten Rennen.

Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut, die von Uniformierten mit Pistolen am Gürtel bewacht wurden, blickten über die Stalltüren und sahen mit leichten Zuk-kungen in ihren angespannten Muskeln zu, wie andere Pferde auf die Bahn gingen. Alle drei wären ebenfalls gern gegangen. Alle drei wußten genau, wozu die Trompete drüben auf der Bahn geblasen wurde.

Samstag morgen, schön und klar.

Die Menschen versammelten sich zu Tausenden auf den Churchill Downs. Neugierig, erwartungsvoll, schwatzhaft, angetan mit leuchtenden Farben, kauften sie Julep in Souvenirfläschchen, ergossen sich durch die Tore und über das Innenfeld, lasen die letzten Sportartikel über Pincer Movement contra Salad Bowl und träumten von erfolgreichen Wetten auf Außenseiter, die mit fünfzig zu eins gehandelt wurden.