Blisters Schultz hatte gerade genug zusammengekratzt, um seine Motelrechnung zu bezahlen, aber seine Selbstachtung hing von mehr Glück beim Klauen ab. Sein kleines, zerfurchtes Gesicht mit den vielbeschäftigten Augen zeigte einen Ausdruck, der der Verzweiflung nahe kam, und die langen Raubvogelfinger ballten sich in seinen Taschen krampfhaft zu Fäusten.
Piper Boles, der auf Crinkle Cut ein Gewicht von hundertsechsundzwanzig bringen mußte, gestattete sich ein Ei zum Frühstück und entschied, was er mit dem Bündel unbenutzter Scheine, die man ihm am vorherigen Abend ausgehändigt hatte, anfangen würde; auch die Anlage der Gewinne (der legalen wie der illegalen), die er an diesem Tag noch erwartete, wollte wohlbedacht sein. Wenn er die Sache heute nachmittag sauber über die Bühne brachte, dachte er, gab es keinen offensichtlichen Grund, warum er dieselbe Idee nicht noch einmal verwenden sollte, selbst wenn er sich aus dem Reitsport zurückgezogen hatte. Seinen Geisteswandel vom Gelegenheitsgauner wider Willen zum gewohnheitsmäßigen Betrüger nahm er kaum wahr.
Marius Tollman verbrachte den Morgen damit, verschiedene Bekannte anzurufen und ihnen Gewinne anzubieten. Seine Angebote wurden akzeptiert. Marius Tollman spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel, und beförderte mit federnden Schritten seine zweihundertsechzig Pfund ein paar Häuserblocks weiter Richtung Stadtzentrum, wo ein vorsichtiger Gentleman zehntausend Dollar in nicht registrierten Scheinen abzählte. Marius Tollman gab ihm eine ordnungsgemäß unterzeichnete Quittung. Geschäft war Geschäft.
Fred Collyer wollte einen Drink. Einer, dachte er, würde nicht schaden. Er konnte ihn ein wenig aufpeppen, ihn wieder auf Vordermann bringen. Ein kleiner Drink am Morgen würde ihn gewiß nicht davon abhalten, am Abend eine flotte Story zu Papier zu bringen. Gegen einen einzigen Drink vor dem Rennen konnte der Star nichts einzuwenden haben, vor allem nicht, da er es geschafft hatte, sich am vergangenen Abend von der Bar fernzuhalten, indem er um neun zu Bett gegangen war. Seine Abstinenz hatte ihn große Willensanstrengung gekostet: Es war nur recht und billig, eine solche Leistung mit einem Drink zu belohnen, einem einzigen.
Allerdings hatte er am Mittwochabend die Flasche geleert, die er aus Louisville mitgebracht hatte. Er angelte nach seiner Brieftasche, um festzustellen, wieviel er noch drin hatte: dreiundachtzig Dollar, immer noch genug für eine Flasche für später und einen schnellen Drink an der Bar, bevor er ging.
Er lief die Treppe hinunter. In der Lobby bot ihm sein Kollege Clay Petrovitch jedoch abermals freie Mitfahrt zu den Churchill Downs in seinem Mietwagen an, daher beschloß er, seinen Drink für eine halbe Stunde aufzuschieben. Den ganzen Weg zur Rennbahn schlug er sich im Geiste immer wieder auf die Schulter.
Blisters Schultz, der im Gedränge der Leute hinter der Tribüne kreiste, sah Marius Tollman im Sonnenschein hereinkommen; der Mann lehnte sich zurück, um sein Gewicht vorne besser tragen zu können, und keuchte hörbar in der zunehmenden Hitze.
Blisters Schultz leckte sich die Lippen. Er kannte den dicken Mann vom Sehen, wußte, daß irgendwo an diesem fetten Körper genug Mammon versteckt sein mußte, um ihn durch den Sommer zu bringen. Marius Tollman würde niemals mit leeren Taschen beim Derby erscheinen.
Zwei Gedanken ließen Blisters zögern, während er wie ein Aal im Kielwasser des dicken Mannes schwamm. Erstens war Tollman ein zu alter Hase, um sich ausrauben zu lassen. Zweitens wußte man, daß er wohlorganisierte Freunde hatte, und wenn Tollman Syndikatsgelder bei sich hatte, wollte Blisters sich nicht die Finger verbrennen, indem er sie stahl; einer solchen Aktion hatte er nämlich seinen Spitznamen Blisters — Brandblasen — zu verdanken.
Bedauernd löste Blisters sich von seiner Beute und kehrte zu der Menschenmenge in der tröstlichen Dunkelheit unter der Tribüne zurück.
Um zwölf Uhr siebzehn mischte er sich in eine Traube dicht an dicht stehender Leute, die auf einen Aufzug warteten.
Um zwölf Uhr achtzehn stahl er Fred Collyers Brieftasche.
Marius Tollman trug sein Geld in raffinierten Unterarmtaschen, die er sich in der Menschenmenge aus Angst vor Taschendieben an den Leib preßte. Zur gegebenen Zeit suchte er dann so viele verschiedene Verkaufsschalter wie nur möglich auf, um den Einsatz unauffällig zu verteilen. Fast die Hälfte der Wettscheine würde er Piper Boles geben (zusammen mit dem zweiten Bündel benutzter Scheine), die andere Hälfte würde er für sich behalten.
Ein hübsches, sauberes, kleines Ding, dachte er selbstzufrieden. Und kein Grund, warum er etwas Derartiges nicht irgendwann wieder einfädeln sollte.
Er gönnte sich einen Julep und schenkte einem Mädchen, das mehr Busen als Scheu zeigte, ein freundliches Lächeln.
Die Sonne heizte den Tag auf. Die Vorrennen folgten eins auf das andere mit Wogen des Beifalls, obwohl jedes hart gerittene Finish lediglich eine Episode am Rande war, die dem großen Ereignis voranging, dem Derby, dem Höhepunkt, dem neunten Rennen, das man» The Roses «nannte wegen der Decke aus roten Blüten, die dem Siegerpferd im Triumph über den Widerrist gelegt werden würde.
Im Jockeyraum zog Piper Boles das Renndreß für Crinkle Cut an und begann zu schwitzen. Je näher das Rennen kam, um so mehr wünschte er, es handle sich um einen gewöhnlichen Derbytag. Er beruhigte seine Nerven mit der Lektüre der Financial Times.
Fred Collyer bemerkte den Verlust seiner Brieftasche oben im Pressezimmer, als er ein Bier bezahlen wollte. Er fluchte, durchsuchte all seine Taschen, kehrte im Pressezimmer das Unterste zuoberst, ließ sich von Clay Petrovitch die Schlüssel für den Mietwagen geben und ging den ganzen Weg zurück zum Parkplatz ab. Nach einer fruchtlosen Suche marschierte er wütend zur Tribüne zurück und erwürgte im Geiste gnadenlos den lausigen, stinkenden Hurensohn, der ihm sein Geld gestohlen hatte. Er vermutete, daß es sich um einen erfahrenen Gauner handelte, wahrscheinlich sogar um einen alten Mann. Die jungen Schurken verließen sich mehr auf Muskeln denn auf Köpfchen.
Seine praktischen Probleme waren nicht allzu groß. Er brauchte wenig Bares. Clay Petrovitch würde ihn wieder mit in die Stadt nehmen, die Motelrechnung ging direkt an den Manhattan Star, und sein Flugzeugticket lag sicher verwahrt auf der Kommode in seinem Zimmer. Um das Nötigste bezahlen zu können, konnte er sich vielleicht zwanzig Mäuse von Clay oder anderen Leuten im Pressezimmer leihen.
Als er im Aufzug nach oben fuhr, dachte er, daß der Verlust seines Geldes wie ein himmlisches Zeichen war; kein Geld, kein Drink.
Blisters Schultz sorgte dafür, daß Fred Collyer den ganzen Nachmittag nüchtern blieb.
Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut wurden aus ihren Ställen gebracht und durch die Unterführung unter den Autos und den Menschenmassen auf die Bahn vor der Tribüne geschleust. Sie gingen locker und unverkrampft, als wäre das alles nichts Besonderes; sie waren an das Rampenlicht gewöhnt, wußten aber aus Erfahrung, daß dies nur ein Vorgeschmack war. Der erste Anblick der Stars des Tages trieb die Menge wie einen Schwarm vielfarbiger Fische zum Totalisator.
Piper Boles ging mit den anderen Jockeys zu dem mit Maschendraht eingezäunten Führring, wo Pferde, Trainer und Besitzer aller Ställe in Grüppchen zusammenstanden. Er litt unter den ersten Auswirkungen eines Gefühls des Losgelöstseins und der Unwirklichkeit: Er konnte nicht glauben, daß er, ein im Grunde ehrlicher Jockey, drauf und dran war, das Kentucky Derby zu versauen.
George Highbury wiederholte ungefähr zum vierzigsten Mal die Taktik, auf die sie sich geeinigt hatten. Piper Boles nickte ernsthaft, als hätte er die Absicht, die Anweisungen zu befolgen. In Wahrheit hatte er kaum ein Wort davon mitbekommen; und er war ebenfalls taub für die lautstarken Bands und den Gesang, als die Derbystarter auf die Bahn geführt wurden. My Old Kentucky Home brachte die Gefühle der Menge in Wallung und ungezählte Taschentücher zum Vorschein, mit denen tränenfeuchte Augen abgetupft wurden, aber bei Piper Boles bewirkten die anrührenden Töne nicht mal einen Wimpernschlag.