Während der Parade, dem Kanter zum Start, ja sogar auf dem Weg in die Startboxen hielt das Gefühl der Losgelöstheit an. Erst dann, als sich die Anspannung auf den Gesichtern der anderen Reiter deutlich zeigte, kehrte Piper Boles ruckartig in die Wirklichkeit zurück. Seine Herzfrequenz verdoppelte sich fast, und die Energie flutete in sein Gehirn zurück.
Jetzt, dachte er. Genau jetzt, in der nächsten halben Minute, werde ich mir zehntausend Dollar extra verdienen und danach den Rest.
Er zog seine Brille herunter und nahm Zügel und Peitsche in die Hand. Er hatte Pincer Movement zur Rechten und Salad Bowl zur Linken, und als die Boxen aufsprangen, schoß er mit ihnen hinaus, verlagerte sein Gewicht augenblicklich nach vorne über den Widerrist und stand in den Steigbügeln, den Kopf beinahe so weit vorn wie Crinkle Cut selbst.
Den ganzen Weg vorbei an der Tribüne konzentrierte er sich darauf, in der Mitte des Hauptfeldes zu bleiben, so unauffällig wie möglich, und als es dann in die Kurve ging, war er immer noch mittendrin, ohne viel zu tun. Aber auf der Gegengerade, als er ungefähr an zehnter Stelle in einem Feld von sechsundzwanzig Tieren lag, verdiente er sich sein kleines Vermögen.
Niemand außer Piper Boles wußte genau, was wirklich geschehen war; nur er wußte, daß er seinen linken Zügel mit einer scharfen Wendung des Handgelenks verkürzt und Crinkle Cut den rechten Fuß in die Rippen gepreßt hatte. Das schnell galoppierende Pferd gehorchte diesen Anweisungen, schwenkte abrupt nach links und rammte das Pferd neben ihm.
Das Pferd neben ihm war immer noch Salad Bowl. Unter der Wucht des Aufpralls rammte Salad Bowl das Pferd zu seiner eigenen Linken, schwankte zurück, strauchelte, verlor komplett den Halt und stürzte. Die beiden Pferde direkt dahinter stürzten über ihn.
Piper Boles blickte nicht zurück. Das Ausschwenken und der Zusammenstoß hatten ihn um mehrere Plätze zurückgeworfen, die Crinkle Cut selbst im günstigsten Falle niemals würde aufholen können. Den Rest des Rennens ritt er streng seinen Anweisungen gemäß und ging an zwölfter Stelle durchs Ziel.
Von den einhundertvierzigtausend Zuschauern in Churchill Downs hatte nur eine Handvoll einen klaren Blick auf die Katastrophe auf der anderen Seite der Bahn. Die im Innenfeld gelegenen Bauten hatten den Zusammenstoß vor fast allen verborgen, die nicht erhöht standen, und vor den meisten auf der Tribüne. Nur die Presse von ihrem
Ausguck hoch oben aus hatte etwas gesehen. Augenblicklich wurden einige Reporter ausgesandt, um die Tatsachen zu ermitteln, und im Pressezimmer summte es wie in einem aufgescheuchten Bienenstock.
Fred Collyer beobachtete vom Balkon aus, wie die Fotografen herbeiliefen, um Pincer Movements Ruhm festzuhalten, und überlegte mürrisch, daß nicht einer von ihnen Nahaufnahmen von dem zweiten Favoriten machte, von Salad Bowl, der da unten im Schmutz lag. Er sah zu, wie die Decke aus dunklen Rosen dem Gewinner übergelegt wurde, und beobachtete die triumphale Darbietung der Trophäen, dann ging er hinein, um sich die Wiederholung des Rennens im Fernsehen anzusehen. Der Zwischenfall mit Salad Bowl wurde von vorn, von hinten und von der Seite gezeigt und dann in eine Reihe von Standbildern zerlegt.
«Haben Sie das gesehen«, sagte Clay Petrovitch und zeigte über Fred Collyers Schulter auf den Bildschirm.
«Crinkle Cut hat den Zusammenstoß verursacht. Man kann sehen, wie er Salad Bowl rammt… da!.. Crinkle Cut, das ist der Joker.«
Fred Collyer schlenderte zu seinem Platz, setzte sich und starrte seine Schreibmaschine an. Crinkle Cut. Er wußte etwas über Crinkle Cut. Er dachte fünf Minuten lang angestrengt nach, konnte sich aber nicht erinnern, was er wußte.
Einzelheiten und Zitate drangen ins Pressezimmer hinauf. Alle gestürzten Jockeys erschüttert, aber unverletzt. Alle Pferde dito; die Stewards, in heller Aufregung, stellten augenblickliche Nachforschungen an und ließen den Film der Überwachungskamera wieder und wieder ablaufen. Sperre für Piper Boles unwahrscheinlich, da man für gewöhnlich bei rauhen Ritten im Derby ein Auge zudrück-te. Piper Boles hatte dazu erklärt:»Crinkle Cut ist einfach plötzlich zur Seite ausgebrochen. Ich habe nicht damit gerechnet und konnte nicht verhindern, daß er Salad Bowl rammte. «Eine Vielzahl von Leuten glaubte ihm.
Fred Collyer überlegte, daß er ruhig erst mal ein paar Fakten zu Papier bringen konnte. Es würde den ersten Drink in greifbarere Nähe rücken — o Mann, wie er diesen Drink brauchte. Während er mit einem Ohr weiter auf neuere Informationen lauschte, tippte er einen mühsamen Ich-war-dabei-Bericht über einen Zwischenfall, den er kaum gesehen hatte. Als er ihn noch einmal durchlas, sah er, daß die ersten Worte, die er geschrieben hatte, wie folgt lauteten:»Das Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut stahl dem Sieger nach dem Rennen die wohlverdiente…«
Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut? Das hatte er gar nicht schreiben wollen… oder jedenfalls nicht direkt. Er runzelte die Stirn. Und da waren noch andere Worte in seinen Gedanken, die genauso töricht klangen. Er legte die Hände wieder auf die Tasten und tippte drauflos.
«Das wird Sie was kosten… zehntausend in gebrauchten Scheinen… die Hälfte im voraus.«
Er starrte die Worte, die er geschrieben hatte, an. Die Phantasie ging offenbar mit ihm durch. Oder er hatte geträumt. Das eine oder das andere.
Ein Traum. Das war es. Jetzt erinnerte er sich wieder. Er hatte einen Traum von zwei Männern gehabt, die ein manipuliertes Rennen planten, und einer von ihnen war Marius Tollman gewesen, der schnaufend von einem Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut sprach.
Fred Collyer entspannte sich und lächelte bei dem Gedanken, und im nächsten Augenblick wußte er ganz plötzlich, daß es doch kein Traum gewesen war. Er hatte Marius Tollman und Piper Boles gehört, wie sie ein Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut planten, und er hatte es vergessen, weil er betrunken gewesen war. Na schön, beruhigte er sich mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens, es war ja nichts passiert, es war ihm ja wieder eingefallen, nicht wahr?
Nicht ganz. Wenn Crinkle Cut eine Ablenkung war, wovon sollte er dann ablenken? Vielleicht würde er, wenn er ein wenig wartete, herausfinden, daß er auch das wußte.
Blisters Schultz gab Fred Collyers Geld für zwei Hot dogs, einen Julep und fünf erfolglose Wetten aus. Auf der Habenseite hatte er drei weitere Brieftaschen und eine Frauenhandtasche zu verbuchen: Nettogewinn einhundertvierundneunzig Dollar. Trübsinnig beschloß er, es für den Tag gut sein zu lassen und nächstes Jahr nicht wieder herzukommen.
Marius Tollman schleppte sich von einem Totoschalter zum anderen, und die Stewards baten die Jockeys, die in die Massenkarambolage um Salad Bowl verwickelt gewesen waren, zum Gespräch.
Die an den Rändern ausfransende Menschenmenge machte sich erhitzt und müde in dem vergilbenden Sonnenschein auf den Heimweg. Die Bands marschierten davon. In den Souvenirbuden packte man die Ware zusammen. Pincer Movement ließ sich zum tausendsten Mal fotografieren, und die Starter für das zehnte, letzte und uninteressanteste Rennen des Tages wurden von den Ställen hergeführt.
Piper Boles wartete darauf, daß er zu den Stewards hineingerufen wurde, während Marius Tollman, der über die höchstrangigsten Boten verfügte, ein Päckchen auf den Weg schickte, das ordnungsgemäß ausgeliefert wurde. Piper Boles nickte, ließ es in seine Tasche gleiten und lieferte den Stewards eine hollywoodreife Vorstellung.
Fred Collyer stützte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu erinnern. Ein Drink, dachte er, würde vielleicht helfen. Ablenkung. Crinkle Cut. Amberezzio.