Heimstudium — in Blindenschrift — und bestand seine Prüfungen mit Auszeichnung.
Er erhob sich geschickt aus dem Bett und zog sich an: blaues Hemd, blaue Jeans.»Blau ist Jamies Lieblingsfarbe«, pflegte seine Mutter zu sagen, und ihre Freunde erwiderten darauf:»Ach ja?«Und sie konnte sehen, wie sie dachten: Woher wollte er das wohl wissen? Aber Jamie konnte die Farbe Blau genauso treffsicher identifizieren wie die Stimme seiner Mutter, und dasselbe galt für Rot und Gelb und jede andere Farbe im Spektrum, solange es Tag war.
«Ich kann im Dunkeln nichts sehen«, hatte er mit sechs Jahren gesagt, und nur seine Mutter, die beobachtete, wie sicher er sich tagsüber bewegte und wie unbeholfen er im Dunkeln wirkte, hatte ihn verstanden. Ein wandelndes Radargerät nannte sie ihn. Wie viele junge Blinde konnte er mühelos die Wellenlänge des Lichtes spüren und die unendlich winzigen Veränderungen von dessen Frequenz wahrnehmen, wenn es von farbigen Dingen in seiner Umgebung reflektiert wurde. Fremden war er unheimlich. Jamie war überzeugt, daß jeder so sehen konnte, wenn er wollte, und verstand nicht, was Augenlicht eigentlich bedeutete.
Er machte sich einen Toast zurecht, aß und öffnete schließlich dankbar dem Fernsehmonteur die Tür.»In meinem Zimmer«, sagte er und ging voran.»Wir haben Ton, aber kein Bild.«
Der Fernsehmonteur betrachtete die blinden Augen und zuckte die Achseln. Wenn der Junge ein Bild wollte, hatte er das Recht darauf, genauso wie jeder andere, der für sein Gerät bezahlte.»Ich muß den Apparat mit in die Werkstatt nehmen«, sagte er und drückte mit kritischer Miene auf ein paar Knöpfe.
«Heute finden die Rennen statt«, sagte Jamie.»Können Sie ihn bis dahin fertig haben?«
«Die Rennen? O ja. Hm… ich sag dir was, ich leihe dir einen anderen Apparat. Ich habe einen im Wagen…«Er taumelte mit dem defekten Apparat hinaus und kehrte mit dem Ersatzgerät zurück.»Zu wenig Radios hast du aber nicht, wie?«fragte er, während er sich um sah.»Wozu brauchst du sechs Stück?«
«Ich habe sie auf verschiedene Sender eingestellt«, sagte Jamie.»Das da…«:, er zeigte genau auf das richtige Gerät,»empfängt Flugfunk, das da die Polizei; die drei da drüben sind auf gewöhnliche Radiosender eingestellt, und das da… auf Lokalradio.«
«Was du brauchst, ist ein Transmitter. Der würde dir Kontakt mit der ganzen Welt verschaffen.«
«Ich werde mich drum kümmern«, sagte Jamie.
Er schloß die Tür hinter dem Monteur und fragte sich, ob es schon ein Verbrechen war, auf einen sicheren Tip zu setzen.
Greg Simpson hatte solche Bedenken nicht. Er löste den Eintritt zum Führring von Ascot und schlenderte drauflos, um seinen gemütlichen Schmerbauch mit einem Bier und einem Sandwich zu verwöhnen. Zwei Jahre war es jetzt her, dachte er schmatzend, seit er zum ersten Mal einen Fuß auf den Turf gesetzt hatte. Zwei Jahre, seit er seine Prinzipien gegen Wohlstand eingetauscht und sich aus einer lähmenden Depression befreit hatte.
Sie erschienen ihm jetzt als ferne Erinnerung, diese fünfzehn fürchterlichen Monate; der schreckliche, demütigende Zusammenbruch seiner scheinbar sicheren, pensionsberechtigten Welt. Was nutzte es ihm zu wissen, daß Fusionen und Rationalisierungen wie ihn selbst zahllose andere Manager aus gehobenen Positionen aufs Alteisen warfen?
Mit zweiundfünfzig Jahren, nach langer Berufserfahrung, mit viel Erfolg und echter administrativer Begabung, war er davon ausgegangen, daß er zumindest mühelos einen neuen, passenden Posten finden würde; aber eine geschlossene Tür nach der anderen und ein bedauernder Refrain von» Tut mir leid, Greg«,»Tut mir leid, alter Knabe«,»Tut mir leid, Mr. Simpson, wir brauchen jemand Jüngeres «hatten ihn zu guter Letzt in qualvolle Verzweiflung gestürzt. Und gerade, als es soweit war, daß seine Frau trotz ihrer extrem vorsichtigen Haushaltsführung ihren beiden Kindern auch noch das Geld fürs Schwimmbad abschlagen mußte, hatte er die merkwürdige Annonce gelesen:
«Jobs für reife, respektable Personen, die ohne eigenes Zutun seit mindestens zwölf Monaten arbeitslos sind.«
Eine leise Stimme flüsterte ihm zu, daß dies eine Aufforderung zu einem Verbrechen sein mußte, aber er war dennoch zu dem schließlich vereinbarten Gespräch in einem Londoner Pub gegangen, und er war erleichtert gewesen, den überaus gewöhnlichen Mann kennenzulernen, der ihm Rettung anbot — ein Mann wie er selbst, in mittleren Jahren, mit mittlerer Ausbildung, mit Anzug und Krawatte und blasser Bürohaut.
«Gehen Sie oft zum Pferderennen?«fragte Arnold Roper ihn rundheraus und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.»Spielen Sie überhaupt jemals um Geld? Verfolgen Sie die Rennen? Spielen Sie, um zu gewinnen?«
«Nein«, sagte Greg Simpson spröde, sah seine Aussichten auf den Job schwinden und fühlte sich trotzdem überlegen.»Ich fürchte nein.«
«Wetten Sie auf Hunde? Gehen Sie zum Bingo? Spielen Sie Lotto? Fühlen Sie sich zum Roulette hingezogen?«hakte der Mann nach. Greg Simpson schüttelte schweigend, aber nachdrücklich den Kopf und schickte sich an zu gehen.
«Gut«, sagte Arnold Roper munter.»Spieler nutzen mir nämlich nichts, nicht für diesen Job.«
Greg Simpson entspannte sich und gratulierte sich im Geiste zu seiner eigenen Tugendhaftigkeit.»Was ist das für ein Job?«fragte er selbstgefällig.
Arnold Roper fegte Simpson das Grinsen vom Gesicht.
«Sie gehen zum Rennen«, sagte er barsch.»Sie setzen, wenn ich es Ihnen sage, und niemals sonst. Sie werden an fast allen Tagen der Woche zu Rennveranstaltungen gehen
— wie zu irgendeinem anderen Job. Sie setzen auf sichere Sieger, und nach jedem Gewinn erwarte ich, daß Sie mir meinen Anteil schicken. «Er nannte eine sehr bescheidene Summe.»Alles, was Sie darüber hinaus gewinnen, gehört Ihnen. Es ist narrensicher und ungefährlich. Wenn Sie es nüchtern und geschäftsmäßig betreiben und nicht in die Narretei verfallen, nach Ihren eigenen Neigungen zu wetten, werden Sie sehr gut dabei fahren. Denken Sie drüber nach. Wenn Sie interessiert sind, sehen wir uns morgen hier wieder.«
Auf sichere Sieger setzen… jeder einzelne ein Gewinner: Arnold Roper hatte Wort gehalten, und Greg Simpsons Lebensstil hatte sich wieder normalisiert. Seine Bedenken hatten sich in Luft aufgelöst, sobald er erfuhr, daß er persönlich mit der Sache nichts zu tun haben würde, falls der Betrug doch einmal aufgedeckt werden sollte. Er wußte nicht, wie sein Arbeitgeber an seine unfehlbaren Informationen herankam, und wenn er auch darüber spekulierte, er fragte nicht danach.
Er kannte ihn nur als Bob Smith und hatte ihn nach diesen ersten beiden Begegnungen nicht wiedergesehen; aber er nahm die Warnung ernst, daß das Füllhorn versiegen würde, falls er je einmal bei den genannten Rennveranstaltungen nicht auftauchen oder die vereinbarten fünfundzwanzig Pfund nicht entrichten sollte.
Er aß sein Sandwich auf und mischte sich unter die Buchmacher, während die Pferde fürs erste Rennen zum Startpfosten galoppierten.
Von hoch oben auf der Tribüne blickte Arnold Roper durch sein starkes Fernglas und inspizierte seine Truppe Mann für Mann. Die perfekte Belegschaft, dachte er. Kein Krankenstand, keine Gewerkschaftsprobleme, keine Klagen.
Augenblicklich standen einundzwanzig Männer auf seiner Liste, die alle zufrieden seine Informationen entgegennahmen, die alle pflichtschuldigst ihre bescheidenen Abgaben entrichteten, und keiner von ihnen wußte von der Existenz der anderen. In einer durchschnittlichen Woche fügte er nach Abzug der Unkosten seinem Schlafzimmerhort einen Tausender in bar hinzu.
In den fünf Jahren, seit er in kleinem Stil begonnen hatte, sein System zur Anwendung zu bringen, hatte er mit seinen Männern nicht eine einzige Niete gezogen. Die Zeit zum Nachdenken gab den Furchtsamen und den Ehrlichen eine einfache Möglichkeit zum Rückzug; und wenn Arnold selbst Zweifel hatte, tauchte er selbst am zweiten Tag nicht wieder auf.