In der Umkleidekabine hatte Jerry Springwood keine Mühe, sowohl seinen Kater als auch seine Angst zu verbergen. Die anderen Jockeys litten wie gewohnt unter der nervösen Anspannung vorm National und stellten fest, daß ihre Münder ein wenig trocken waren, ihre Gedanken ein wenig zerstreut und daß der Strom ihrer zotigen Scherze zu einem Rinnsal vertröpfelte.
Zweimal über Becher’s Brook, dachte Jerry hoffnungslos, dann der Kanal mit der Kehre, dann der Chair, wie in Gottes Namen soll ich das nur schaffen?
Während Jerry schwitzte, versuchte Chief Superintendent Crispin, Chef der Ortspolizei, sich in aller Eile über die Bedeutung einer Information klarzuwerden, die er soeben erhalten hatte. Er mußte sich, so stellte er schließlich fest, an den ersten Mann der Rennbahn wenden, wenn er ein möglichst befriedigendes Ergebnis erreichen wollte.
Der erste Mann der Rennbahn, der Senior-Steward des Jockey Clubs, hatte in einem privaten Speisezimmer eine Reihe wichtiger Besucher aus Übersee zum Mittagessen zu Gast, als Chief Superintendent Crispin ihnen in den gebratenen Lammrücken platzte.
«Ich muß Sie dringend sprechen, Sir«, sagte der Polizist und beugte sich über das höchste Ohr des Renngeschehens.
Sir William Westerlands ausdrucksloser Blick ruhte kurz auf der beträchtlichen Menge Messing auf der marineblauen Uniform.»Sie sind hier zuständig?«
«Ja, Sir. Können wir unter vier Augen sprechen?«
«Ich denke doch, wenn es denn so wichtig ist. «Sir William erhob sich, warf einen bedauernden Blick auf die noch übrige Hälfte seines Mittagessens und führte den Polizisten in den offenen Teil seiner Privatloge hoch oben auf der Tribüne. Die beiden Männer standen gebeugt in der kühlen Luft und unterhielten sich vor dem Hintergrundlärm der anschwellenden Menschenmenge und den Rufen der Buchmacher, die ihre Wetten für das bevorstehende erste Rennen feilboten.
Crispin sagte:»Es geht um den Bankraub von Birmingham, Sir.«
«Aber der liegt doch schon mehr als ein Jahr zurück«, protestierte Westerland.
«Einige der gestohlenen Geldscheine sind heute hier auf der Rennbahn aufgetaucht.«
Westerland runzelte die Stirn; es war überflüssig, ihm Einzelheiten zu erzählen. Die Sprengung des angeblich uneinnehmbaren Tresors, der Diebstahl von mehr als dreieinhalb Millionen Pfund, die gewaltsame Flucht der Diebe: Es war ein noch größeres Spektakel gewesen als seinerzeit der Tod Nelsons.
Vier Männer und ein kleiner Junge waren bei der Explosion außerhalb der Mauern der Bank getötet worden, und zwei Hausfrauen und zwei junge Polizisten waren später niedergeschossen worden. Die Diebe waren, noch bevor das Echo der einstürzenden Wände verklungen war, in einem Feuerwehrwagen vorgefahren und in den Ruinen verschwunden, um den Inhalt des Tresors in» Sicherheitsverwahrung «zu nehmen; dann waren sie einfach mit der Beute davongefahren. Im allerletzten Augenblick schöpfte ein verwirrter Constable Verdacht; seine Aufforderung anzuhalten war mit einem Hagel von Maschinengewehrkugeln beantwortet worden. Nur ein Mitglied der Bande hatte man identifiziert, gefangengenommen, vor Gericht gestellt und zu dreißig Jahren verurteilt; und von diesen hatte der Gangster genau dreißig Tage abgesessen, bevor ihm eine spektakuläre Flucht gelang. Ihn wieder einzufangen und seine Komplizen ebenfalls dingfest zu machen hatte bei der Polizei Dringlichkeitsstufe eins.
«Es ist die erste Spur seit Monaten«, sagte Crispin ernst.
«Wenn wir denjenigen verhaften können, der mit dem heißen Geld hierhergekommen ist…«
Westerland blickte auf die brodelnde, aus Tausenden Menschen bestehende Menge hinab.»Ziemlich hoffnungslos, würde ich meinen«, sagte er.
«Nein, Sir. «Crispin schüttelte seinen ordentlich frisierten, ergrauenden Kopf.»Ein besonders scharfsichtiger Prüfer beim Toto hat einen der Geldscheine entdeckt, und jetzt haben sie noch neun weitere gefunden. Eine der Verkäuferinnen des Fünf-Pfund-Schalters erinnert sich daran, daß sie Wettscheine im Wert von hundert Pfund an einen Mann verkauft hat, der mit Scheinen bezahlte, die sich neu anfühlten, obwohl sie stark zerknittert und zerknautscht waren.«
«Aber trotzdem.«
«Sie erinnert sich daran, daß er nur auf ein Pferd gesetzt hat, und zwar auf Sieg, was beim Grand National ungewöhnlich ist.«
«Welches Pferd?«
«Haunted House, Sir. Und daher, Sir, wird unser Mann, wenn Haunted House gewinnt, mit seinem Bündel Wettscheine für hundert Pfund zum Zahlschalter kommen, und dann haben wir ihn.«
«Aber«, wandte Westerland ein,»was ist, wenn Haunted House nicht gewinnt?«
Crispin sah ihn mit ruhiger Miene an.»Wir möchten, daß Sie dafür sorgen, daß Haunted House gewinnt. Wir wollen, daß Sie das Grand National manipulieren.«
Unten im Tattersall reichte Austin Dartmouth Glenn einem Buchmacher zwei heiße Banknoten; dieser stopfte sie eifrig und ohne sie näher zu betrachten in seine Tasche. Einen Zehner auf Sieg für Spotted Tulip zu einem Kurs von acht zu eins. In dem Lärm, der Hast und der Aufregung der letzten fünf Minuten vor dem ersten Rennen kämpfte Austin sich zur Tribüne hinauf, um sich den besten Ausblick auf sein Geld auf vier Hufen zu sichern. Aber diese vier Hufe schienen lahm zu sein und waren die letzten im Ziel. Angewidert zerriß Austin seinen Wettschein und warf die Schnipsel in den Wind.
Im Umkleideraum stieg Jerry Springwood widerstrebend in seine dünne, weiße Reithose und mühte sich mit den Knöpfen seiner leuchtenden, rot-weiß gestreiften Rennfarben ab.
Sein Kopf füllte sich wie ein Brunnen mit Panik, und der furchtbare Wunsch, Hals über Kopf zu fliehen, wurde mit jeder Minute, die verging, tiefer und tödlicher. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und nahm nicht wahr, daß jemand ihn ansprach.
Seine Hände zitterten. Ihm war kalt. Es mußte noch eine ganze Stunde überstanden werden, bevor er sich würde zwingen müssen, in den Führring zu treten, aufs Pferd zu steigen, zu den Startboxen zu reiten und dann weiter über diese schwierigen sechs Kilometer und über dreißig gewaltige Hindernisse.
Ich schaff’s nicht, dachte er wie betäubt. Ich halte es einfach nicht aus. Wo kann ich mich nur verstecken?
Die vier Stewards, die für die Veranstaltung verantwortlich waren, saßen mit düsteren Mienen um ihren großen Tisch und reagierten mit verschiedenen Abstufungen der Ungläubigkeit und Beklommenheit auf das Drängen von Chief Superintendent Crispin.
«So etwas ist noch nie dagewesen«, sagte einer.»Es kommt gar nicht in Frage. Wir haben nicht mehr genug Zeit«, sagte ein anderer. Ein dritter sagte:»Sie werden die Trainer nie dazu kriegen, sich mit etwas Derartigem einverstanden zu erklären.«
«Und was ist mit den Besitzern?«fragte der vierte.
Crispin hatte vor dem Rennsport genausowenig Achtung wie vor schurkischen Politikern und fand, daß die Verhaftung dieses Abschaums aus Birmingham von weit größerer gesellschaftlicher Bedeutung war als die Frage, welches spezielle Pferd als erstes durchs Ziel ging.
Seine innere Empörung angesichts der sturen Haltung der Stewards nahm unmißverständlich von seiner Stimme Besitz.
«Die Diebe von Birmingham haben neun Menschen ermordet«, sagte er mit Nachdruck.»Jeder hat die öffentliche Pflicht, der Polizei zu helfen, diese Leute dingfest zu machen.«
Aber die gehe doch gewiß nicht so weit, dafür das Grand National zu ruinieren, beharrten die Stewards.
«Ich habe mir sagen lassen«, bemerkte Crispin,»daß es bei Jagdrennen im allgemeinen kaum um Zuchtwerte geht, und in dem diesjährigen National sind die Teilnehmer allesamt Wallache. Es ist nicht so, als bäten wir Sie darum, mit der Manipulation des Derbys das Zuchtbuch zu verderben.«
«Trotzdem, es wäre unfair gegenüber der wettenden Öffentlichkeit«, sagten die Stewards.