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«Die Leute, die in Birmingham gestorben sind, waren Teil der wettenden Öffentlichkeit. Die nächsten, die bei dem nächsten gewalttätigen Banküberfall sterben, werden ebenfalls zur wettenden Öffentlichkeit gehören.«

Sir William Westerland lauschte den Argumenten mit unverändert ausdrucksloser Miene. Er hatte es im Leben weit gebracht, indem er mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, bis alle anderen ihre Herzen, ihre Ansichten und ihre Schwächen bloßgelegt hatten. Die milden Bemerkungen, die er dann schließlich abzugeben pflegte, wurden meist als eine Art göttliche Offenbarung aufgenommen, obwohl es sich im Grunde genommen nur um gesunden, von Gefühlen unbeeinträchtigten Menschenverstand handelte. Er beobachtete Crispin und seine Kollegen, die anderen Stewards, die sich langsam in Rage redeten und in Vorbehalt und Feindseligkeit zu verfallen drohten. Er seufzte innerlich, warf einen Blick auf seine Uhr und räusperte sich vernehmlich.

«Meine Herren«, sagte er gelassen und deutlich.»Bevor wir zu einer Entscheidung kommen, meine ich, sollten wir die folgenden Punkte bedenken. Erstens Möglichkeit. Zweitens Geheimhaltung. Drittens Konsequenzen.«

Die Stewards und die Polizisten sahen ihn gleichermaßen erleichtert an.

«Springjockeys«, sagte Westerland,»sind Individualisten. Was glauben Sie, wie man die davon überzeugen kann, daß sie das Rennen manipulieren sollen?«

Keine Antwort.

«Wer kann garantieren, daß Haunted House nicht stürzen wird?«

Keine Antwort.

«Was glauben Sie, wie lange es dauern würde, bis jemand die Presse verständigt? Wollen wir wirklich den Aufruhr, der daraus entstehen würde?«

Keine Antwort, aber gewaltiges Kopfschütteln auf seiten der Stewards.

«Aber wenn wir Chief Superintendent Crispin seine Bitte abschlügen, wie würden wir uns fühlen, wenn wieder eine Bank in die Luft gesprengt würde, wenn weitere unschuldige Menschen getötet würden und wir wüßten, daß wir nichts getan haben, um es zu verhindern?«

Die ganze Versammlung sah ihn schweigend und in Erwartung seiner Führung an.

Jerry Springwoods Kopf fühlte sich an wie ein Ballon, der irgendwo oberhalb seines unkoordinierten Körpers schwebte. Der Ruf:»Die Jockeys bitte auf die Bahn«, hatte ihn ereilt, während er immer noch außerstande war, einen Fluchtweg zu ersinnen. Zu viele Leute kannten ihn. Wie kann ich weglaufen, dachte er; wie kann ich zum Tor taumeln und mir ein Taxi suchen, wo alle wissen, daß ich rausgehen sollte, um Haunted House zu reiten? Kann ich in Ohnmacht fallen, dachte er? Kann ich sagen, ich wäre krank? Ohne sein eigenes Zutun, wie es schien, ging er mit den anderen hinaus; seine bleiernen Beine stapften automatisch weiter, während sein Geist in sich zusammensank. Er stand mit trockenem Mund im Führring, und seine Augen fühlten sich wie griesige Löcher in seinem Schädel an. Das auf nervöse Art herzliche Geplapper, in das Besitzer und Trainer vor jedem Rennen verfielen, hörte er nicht. Ich kann nicht, dachte er. Ich kann nicht.

Der Senior Steward des Jockey Clubs, Sir William Westerland, trat neben ihn, während er stocksteif in seiner Hölle ohne Hoffnung steckte.

«Jerry, eine Kleinigkeit unter uns«, sagte er.

Jerry Springwood sah ihn ausdruckslos an, und seine Augen waren wie glatte, graue Kieselsteine. Westerland, der diesen Ausdruck auf anderen Gesichtern gesehen hatte und wußte, was er bedeutete, wurde jäh von böse-sten Ahnungen heimgesucht. Trotz Chief Superintendent Crispins Einwänden hatte er die einträchtige Meinung der Stewards bestätigt. Das National konnte nicht manipuliert werden — nicht einmal, um Mörder zu fangen. Er kam zu dem Schluß, daß dies sowohl praktisch wie auch moralisch unmöglich war. Die Polizei mußte eben in Zukunft die Rennveranstaltungen schärfer im Auge behalten, und eines nicht mehr allzu fernen Tages würden sie vielleicht ihren Fisch fangen, wenn er wieder zum Toto schwamm.

Aber dennoch fand Westerland, daß es nicht schaden konnte, wenn er Jerry Springwood Erfolg wünschte; aber jetzt wurde ihm klar, daß Crispin keine Chance hatte, heute seinen Mann zu schnappen. In diesem Zustand starrer Angst konnte kein Jockey das National gewinnen. Die Leute, die auf Haunted House gesetzt hatten, würden von Glück sagen können, wenn ihr Pferd sich einen halben Kilometer im Rennen hielt, bevor es einfach haltmachte, die Bahn verließ oder sich unter dem starren Würgegriff seiner Zügel weigerte zu springen.

«Viel Glück«, sagte Westerland lahm und mit Bedauern.

Jerry gab keine Antwort; selbst ganz gewöhnliche Höflichkeit überstieg heute seine Kräfte.

Oben auf seinem Ausguck auf der Tribüne sah Austin Glenn zu, wie die lange Reihe von Startern die Bahn hinunterging. Noch zehn Minuten bis zum Rennen, die Buchmacher schrien sich die Kehlen wund, und die gedrängte Menschenmenge summte vor Erregung. Austin, der sein im ersten Rennen auf Spotted Tulip gesetztes Geld und einen weiteren, noch dickeren Batzen im zweiten Rennen an Buchmacher verloren hatte, biß sich wegen Haunted House auf die Knöchel.

Jerry Springwood saß mit zusammengesunkenen Schultern wie ein Sack im Sattel. Das Pferd, das empfänglich für die Stimmung seines Reiters war, stampfte verwirrt weiter und wußte nicht recht, ob es statt dessen auf die Menge reagieren sollte. Für Austin und viele andere sahen Pferd und Reiter aus, als hätten sich hier zwei zusammengefunden, die beide gar nicht anders konnten als verlieren. William Westerland schüttelte bedauernd den Kopf, und Crispin fragte sich gereizt, warum ausgerechnet dieses spezielle Pferd aussah, als schliefe es gleich ein.

Jerry Springwood stellte sich zum Start auf, indem er jeden anderen Gedanken ausblendete. Der Brunnen der Panik war voll und wollte überlaufen. Jerry, bleich und von klebrigem Schweiß überzogen, wußte, daß er in ein paar Minuten würde absteigen und weglaufen müssen. Müssen.

Als der Starter ihn freigab, stand Haunted House zuerst wie angewurzelt da. Da er kein Zeichen aus dem Sattel bekam, lief er nur zögernd hinter dem entschwindenden Feld her. Das Pferd kannte seinen Job — es war hier, um zu laufen und zu springen und seinen Kopf vor den des nächsten Pferdes zu bringen. Aber der Wallach fühlte sich ruderlos ohne die Hilfe und die Anweisungen, an die er gewöhnt war. Sein Jockey blieb instinktiv oben, die Praxis langer Jahre kam ihm zu Hilfe, die trainierten Muskeln arbeiteten nach einem Schema, das keines bewußten Gedankens bedurfte.

Haunted House sprang als letzter über das erste Hindernis und war fünf Hindernisse später, als sie sich Becher’s Brook näherten, immer noch letzter. Jerry Springwood sah das Pferd direkt vor sich stürzen und erinnerte sich dumpf, daß er genau auf ihm landen würde, wenn er geradeaus weiterritt. Fast ohne nachzudenken, schnippte er mit der rechten Hand am Zügel, und Haunted House, der von diesem winzigsten Lebenszeichen Feuer fing, schwenkte ei-nen Meter zur Seite, ließ die Hufe trommeln und widmete seine großartige Pferdeseele der Aufgabe, sich und seinen Reiter außer Gefahr zu bringen. Haunted House kannte das Geläuf: Es hatte dort gewonnen, mit Jerry Springwood im Sattel, bei kürzeren Rennen. Sein plötzlicher Satz über Becher’s Brook erfüllte die scheinbar unwandelbare innere Leere seines Jockeys erneut mit frischer, lebhafter Angst.

O Gott, dachte Jerry, während Haunted House ihn unausweichlich dem Kanal und der Kehre näherbrachte, wie soll ich das schaffen? Wie soll ich das schaffen? Er saß da und kämpfte gegen seine Panik, während Haunted House ihn trittsicher um die Kehre trug, dann über Valentine’s Brook und den ganzen Weg bis zum Chair. Später glaubte Jerry felsenfest, daß er die Augen geschlossen hatte, als sein Reittier die letzten Meter auf das schwierigste Hindernis der Welt zu galoppierte, aber Haunted House nahm das Hindernis perfekt, ohne auch nur im mindesten zu straucheln. Über das Wasserhindernis und vorbei an der Tribüne, dann wieder raus Richtung Becher’s Brook — das ganze Geläuf mit allen Sprüngen noch einmal von vorn. Wenn ich es jetzt anhalte, dachte Jerry, habe ich genug erreicht. Neben ihm wurden Pferde müde, blieben stehen oder glitten aus und stürzten, aber Haunted House galoppierte mit stetigen fünfzig Stundenkilometern voran, ohne sich im geringsten um das Schicksal seines Reiters zu scheren.