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Austin Glenn auf der Tribüne und William Westerland in seiner Privatloge und Chief Superintendent Crispin, der angespannt vor einem Fernsehbildschirm saß — sie alle sahen mit beschleunigtem Pulsschlag zu, wie Haunted House sich durch das Feld nach vorn kämpfte. Als er Becher’s Brook im zweiten Durchgang erreichte, lag er an zehnter Stelle, an der Kanalkehre an siebter und nach dem drittletzten Hindernis zwei Kilometer vorm Ziel an fünfter Stelle.

Jerry Springwood sah eine Lücke am Innenrail und stieß nicht hinein. Er zügelte sein Pferd vor dem vorletzten Hindernis, so daß sie sicher hinüberkamen, aber zwei Längen einbüßten. Auf der Tribüne stieß William Westerland ein lautes Stöhnen aus, und auf Haunted House krampften sich Jerrys Gedärme zusammen angesichts seiner eigenen jämmerlichen Feigheit. Es ist sinnlos, dachte er. Ich wünschte, ich wäre tot.

Der Anführer des Feldes war ein gutes Stück vorausgegangen, und als Jerry ihn über das letzte Hindernis setzen sah, lag Haunted House gute vierzig Längen zurück. Noch eines, dachte Jerry. Nur noch ein Hindernis. Ich werde nie wieder ein Rennen reiten. Nie wieder. Er biß die Zähne zusammen, und Haunted House spannte die Muskeln an und warf seine halbe Tonne Gewicht dem grün gestrichenen Birkenholz entgegen. Wenn er mich unter sich begräbt, dachte Jerry. wenn ich stürze und er in mich hineindonnert. o Gott, dachte er, bring mich sicher über dieses Hindernis.

Das Pferd an der Spitze, das hoch im Kurs stand und mit hohem Handicap ritt, nahm den letzten flachen Kilometer in scharfem Galopp. Jerry Springwood und Haunted House, die immer noch auf den Beinen waren, hatten für einen ernsthaften Versuch, es einzuholen, zu lange gezögert, aber mit einem gewaltigen Kraftakt, der, wie Jerry sehr wohl wußte, nichts anderes als die Erlösung aus dem Fegefeuer war, stürmten sie an allen anderen vorbei dem Zielpfosten entgegen.

Austin Glenn sah, daß Haunted House mit zwanzig Längen als zweiter ins Ziel ging. Er haderte ein wenig mit sich, daß er sich nicht mit Platzgeldern abgegeben hatte, nahm seine Wettscheine aus der Tasche, riß sie mit philosophischer Miene entzwei und ließ die einzelnen Stücke in alle vier Himmelsrichtungen davonflattern. William Westerland rieb sich das Kinn und fragte sich, ob Jerry Springwood hätte gewinnen können, wenn er es früher versucht hätte. Chief Superintendent verfluchte voller Verbitterung die zwanzig Längen, um die ihm seine Beute entfliehen würde.

Sir William nahm seine berühmten ausländischen Besucher mit hinunter, damit sie sich die Szenen des Jubels, die den Gewinner im Absattelring umgaben, ansehen konnten, und wurde von aufgescheuchten Funktionären mit entsetzten Gesichtern in Empfang genommen.

«Der Sieger kommt nicht durch die Waage«, sagten sie.

«Was soll das heißen?«fragte Westerland.

«Der Sieger hat nicht das richtige Gewicht getragen! Der Trainer hat die Bleidecke in der Sattelbox hängenlassen, als er den Sattel auf sein Pferd legte. Der Sieger hat das ganze Rennen mit zehn Pfund weniger Gewicht bestritten, als er hätte tragen müssen… und wir werden ihn disqualifizieren müssen.«

Es geschah gar nicht so selten, daß die Bleidecke vergessen wurde — aber im National! William Westerland holte tief Luft und wies die entsetzten Funktionäre an, die Öffentlichkeit über Lautsprecher von den Tatsachen in Kenntnis zu setzen. Jerry Springwood hörte die Neuigkeit, während er auf der Waage saß und zusah, wie der Zeiger auf die richtige Markierung zuschwang. Er empfand keine Freude, sondern überwältigende Scham, als hätte er den Preis durch einen Betrug gewonnen.

Crispin stationierte seine Männer an den strategisch wichtigen Stellen und verständigte sämtliche Auszahlschalter des Totos. Oben auf der Tribüne suchte Austin Glenn in einem Wutanfall nach den Papierfetzen und hob jedes abgerissene und zertrampelte Stückchen Papier auf und beäugte es ängstlich.

Der Boden war mit ganzen Wagenladungen zerrissenen Papiers bedeckt. Zwischen den grellen Farben der Wettscheine der Buchmacher war das Gelbbraun der Totoscheine schlecht auszumachen, so daß die Suche der nach einer Nähnadel im Heuhaufen glich; Austin Glenn hatte es mit dem Bodensatz nicht nur der Verlierer des Grand National, sondern auch der Vorrennen zu tun. Irgendwo lagen beispielsweise auch die Schnipsel seines Wettscheins auf Spotted Tulip. Seinen Wettschein zu zerreißen und die Fetzen dem Wind zu überlassen war alles, was ein geschlagener Spieler dem Schicksal entgegenzusetzen hatte.

Austin Glenn suchte und fluchte, bis ihm der Rücken vom Bücken schmerzte. Er war nicht der einzige, der die eherne Regel der Wetter, keinen Wettschein fortzuwerfen, bis die Ergebnisse durch das Zurückwiegen bestätigt waren, verletzt hatte, aber es machte ihm durchaus keine Freude, daß andere ebenso verzweifelt suchten wie er selbst. Wenn nun jemand anders die Fetzen seines Wettscheins aufhöbe und seinen Gewinn damit einstrich? Der Gedanke erzürnte ihn. Und was noch schlimmer war: Er konnte nicht unbegrenzt auf der Bahn bleiben, weil er seinen Zug bekommen mußte. Eine Verspätung konnte er sich nicht leisten; er hatte in dieser Nacht Dienst.

Crispins Männer traten von einem Fuß auf den anderen, während die Zeit verstrich, und wurden immer auffälliger, während die Menschenmenge sich verlief und durch die Tore zwängte. Als der Toto für den Tag dichtmachte, rief der Chief Superintendent sie in frustriertem Zorn ab und mußte einräumen, daß sie wohl doch auf eine andere Gelegenheit würden warten müssen, daß sie aber kaum wieder auf eine so gute rechnen konnten.

Im Waageraum nahm Jerry Springwood, so gut er konnte, die Glückwünsche entgegen und erklärte den überraschten Millionen vor den Fernsehschirmen, daß er seine

Stiefel nach diesem Höhepunkt seiner Laufbahn umgehend an den Nagel hängen würde.

Er begriff nicht, daß er das tapferste Rennen seines Lebens geritten hatte. Als der Applaus verklungen war, schloß er sich im Waschraum ein und weinte um den Verlust seines Mutes.

Austin Dartmouth Glenn fuhr mit leeren Händen und übelster Stimmung nach Hause. Er beschimpfte seine Frau und trat die Katze, und nach einem hastigen Abendessen zog er seine ordentliche marineblaue Uniform an.

Dann ging er mit Zornesfalten auf der Stirn aus dem Haus, um seine gewohnte Nachtschicht als Wärter in dem nahegelegenen Hochsicherheitsgefängnis anzutreten.

Der Tod von Christopher Haig

Was wäre, wenn? — Das ist der Beginn allen Erzählens.

Was, wenn Haig in einem Augenblick sterben würde, da er nicht sterben durfte?

Es hätten sich hunderterlei miteinander verquickter Wellen kräuseln können; hier waren es drei.

Ohne zu wissen, daß es das letzte Mal war, lenkte Christopher Haig seinen summenden Elektrorasierer über die Konturen seines Kinns und beobachtete im Badezimmerspiegel gleichgültig das Ergebnis.

Christopher Haigs Bart war starkwüchsig und schwarz; übertrieben männlich, überlegte er, während zugleich sein Scheitel gnadenlos lichter wurde.

Seufzend begradigte er die Linie zwischen Bart und Kopfhaar vor beiden Ohren und pustete die abrasierten Enden der Barthaare sorgfältig in einen Plastikbeutel, den er stets zu diesem Zweck bereithielt.

Mit zweiundvierzig Jahren, nachdem das mittlere Alter und ein moderater Bauch sich zuerst angeschlichen und dann vollends von ihm Besitz ergriffen hatten, war in Christopher Haig zum ersten Mal der Wunsch erwacht, er hätte mehr gewagt. Er hätte zum Beispiel in einem Heißluftballon um die Welt fliegen wollen, oder er hätte gerne einen Sommer damit zugebracht, in der Antarktis Pinguine zu fotografieren oder mit einem Kanu den Orinoko bis zu den Angel Falls hinaufzufahren. Aber statt dessen hatte er