Das übelste Zähneknirschen hörte man von der Rennleitung selbst. Es war ja nicht zu fassen! Man hielt einen klaren, scharfen Film in Händen, auf dem Vernon Arkwright mit der Hand unter die Hacke von Moggie Reillys Stiefel griff und ihn mit aller Kraft nach oben riß. Man sah, mit welcher Gewalt dies geschah. Man sah, wie sich Moggie Reilly in die Luft erhob und dann über die Schulter seines Pferdes abrutschte und mit aller Kraft kämpfte, um oben zu bleiben und sein Leben zu retten.
Alle konnten sie sehen… Und jetzt erklärte ihnen der Stipendiary Steward — der unanfechtbare Ausleger der Rennordnung —, daß sie weder die Filme der Bahnkameras noch das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, verwerten konnten. Sie konnten Vernon Arkwright keiner wie immer gearteten Missetat anklagen, weil das Cloister Handicap Hurdle als niemals stattgefunden galt. Wenn das Rennen ungültig war, dann waren es auch seine Sünden.
Ungültig hieß ungültig, in jeder Hinsicht.
Böse Geschichte. Aber da konnte man nichts machen. Die Rennordnung war unumstößlich.
«Großer Gott, Christopher«, dachte der fähigste der Stewards und sprach damit seinen Freund, den Zielrichter, an,»warum konnte dein Herz nicht fünf Minuten länger schlagen?«
Haigs Tod verhinderte, daß John Chester Spitzentrainer wurde (für alle Zeiten).
Haigs Tod bewahrte Vernon Arkwright (in diesem Frühjahr) davor, von weiteren Rennen ausgeschlossen zu werden. Verblüfft über sein Glück» vergaß«er klugerweise den Grund für seinen (nun ja ungültigen) Angriff auf Moggie. Es war definitiv nicht der geeignete Augenblick, um zu melden, daß er sich habe bestechen lassen.
Durch seinen Tod rettete Christopher Haig Jasper Bil-lington Innes seinen makellosen Ruf.
Als das vierte Rennen von Winchester begann, stand Jasper selbst von tiefem Elend erfüllt vor einer ganzen Batterie rechteckiger Fernsehschirme in einem Geschäft, das Fernseher verkaufte. Ob klein, ob groß zeigten die Bildschirme die gleichen Bilder, aber alle waren sie stumm. Im Laden bevorzugte man Popmusik, um den Umsatz zu steigern: laute Musik, völlig ohne Bezug zu den kühlen Bildern der Pferde und Reiter im Führring, die ohne jeden Kommentar für sich sprechen mußten.
Jasper fragte einen Angestellten des Ladens, ob er den Ton für die Rennübertragung einstellen könne. Kein Problem, sagte man ihm, aber die Musik ging trotzdem weiter. Mit dem Gefühl, neben sich zu stehen, sah Jasper, wie die Pferde zum Cloister Handicap Hurdle an den Start gingen. Sein eigener schöner Lilyglit bewegte sich anmutig; er strotzte vor Kraft. Jasper wurde von seinen eigenen durcheinandergeratenen Gefühlen zerrissen. Wie hatte er jemals bezweifeln können, daß sein Pferd gewann? Wie hatte er auf den Gedanken verfallen können, ihn unehrlich gewinnen zu lassen? Jasper hätte sich gern eingeredet, daß es seinen Anruf bei Vernon Arkwright nie gegeben habe. Er versuchte, sich weiszumachen, daß Arkwright gar nicht in der Lage sein würde, irgend etwas zu unternehmen, um Storm Cone aufzuhalten. Weder Storm Cone noch irgendein anderes Pferd. Lilyglit würde ohne Hilfe gewinnen… Er mußte gewinnen, damit er, Jasper, die Schulden zurückzahlen konnte… Aber der Ausgleich begünstigte Storm Cone… Und wenn Moggie Reilly sich nicht kaufen ließ, dann mußte man ihn aufhalten… Jaspers Gedanken pendelten zwischen Selbstverachtung und Selbstrechtfertigung hin und her, zwischen Vertrauen in Lilyglit und einer Vision von Armut. Er hatte nie in seinem Leben auch nur das Geld für einen Busfahrschein verdient — er fuhr selten mit dem Bus —, und er war für nichts ausgebildet worden. Wie konnte er für eine Frau und vier Kinder sorgen? Und wie sehr konnte er auf seine eigene Ehrlichkeit bauen, wenn diese sich bei der ersten Bewährungsprobe in nichts aufgelöst hatte? Wenn seine erste Rettung aus einer finanziellen Zwangslage der Versuch gewesen war, einen Jockey zu bestechen?
Auf den zahlreichen stummen Bildschirmen stellten sich die Pferde am Start auf und liefen los — Lilyglit lag sofort weit vorn und bestimmte wie gewöhnlich das Tempo.
Nichts Böses würde geschehen, sagte sich Jasper. Lilyglit würde die ganze Strecke über in Führung bleiben. Er sah in Nahaufnahmen, wie sein Liebling in der ersten Runde an den Zielpfosten vorbeiflitzte und danach in die Kurve zum Ausgang der Geraden ging, so daß nur noch sein Hinterteil den Bildschirm füllte.
Die Fernsehkamera blieb auf Lilyglit gerichtet und zeigte daher nicht Vernon Arkwrights Übergriff auf Storm Cone, sondern — mit einem wilden Schwenk — erst den Augenblick, als Moggie Reilly aus dem Sattel flog. Obwohl die weißen Rails, Storm Cone selbst und andere Pferde ihn größtenteils verdeckten, konnte man doch erkennen, wie Moggie Reilly in seinem scharlachrot und orangefarbenen Trikot kämpfte und schließlich mit unverhoffter Hilfe seinen Kampf gegen die Schwerkraft gewann. Die Batterie von Fernsehschirmen zeigte, wie er, ohne Zügel in der Hand, ohne die Stiefel in den Steigbügeln zu haben, über die nächste Hürdenflucht ging. Dann — Ende der Geschichte — schwenkte die Kamera wieder zurück zum führenden Pferd, zu Lilyglit, der jetzt seine Führung um einige Längen ausgebaut hatte.
Jasper brach am ganzen Körper kalter Schweiß aus. Sein Bewußtsein wollte nicht akzeptieren, was seine Augen gesehen hatten. Er konnte doch nicht… Er konnte doch nicht veranlaßt haben, daß Moggie Reilly in furchtbare Gefahr gebracht und verletzt wurde… Das war unmöglich.
Aber Moggie Reilly hielt sich immer noch auf seinem Pferd, zwar nicht mit den Füßen in den Steigbügeln, aber immer noch entschlossen, verlorenes Terrain wiedergutzumachen, immer noch willens, die fünf oder sechs vor ihm liegenden Pferde einzuholen, auch wenn er sich keine Hoffnung mehr auf den Sieg machen konnte.
Vernon Arkwright war zurückgefallen und auf den Fernsehbildern nicht mehr zu sehen; er hatte seine Aufgabe erfüllt. Jetzt wurde wieder Lilyglit allein gezeigt, der dahingaloppierte und sich uneinholbar mit langen Galoppsprüngen der letzten Hürde näherte.
Ich habe gewonnen, dachte Jasper und empfand wenig Freude dabei.
Lilyglit stürzte.
Lilyglit lag schlaff auf dem grünen Gras.
Die Fernsehkamera schwenkte zum Zieleinlauf um. Storm Cones grelle Farben blitzten an der Linie auf, ohne daß man Genaueres hätte erkennen können, und einen Augenblick später wandte sich die Kamera wieder Lilyglit zu, der sich immer noch nicht bewegte, der wie tot dalag.
Jasper Billington Innes wäre in dem Laden beinahe bewußtlos geworden.
Irgendwo in den Tiefen des Geschäftes wurde ein Knopf gedrückt und wechselte vom Rennprogramm zu einer ausgelassenen Kindersendung. Auf drei Wänden krabbelten identische Zeichentrickfiguren simultan über die Bildschirme, gaben ungehört ihr Geschnatter, ihr Gequieke und ihre Platitüden von sich. Sie zogen ein lachendes Publikum an (was das Rennen nicht vermocht hatte), und das betäubende Bumm-bumm der Hintergrundmusik dröhnte weiter.
Benommen verließ Jasper den Laden und bewegte sich mit zuckenden Beinen auf das vielgeschossige Parkhaus zu, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, nachdem er entschieden hatte, wo er sich das Cloister anschauen wollte.
Er schloß den Wagen auf, setzte sich wie betäubt auf den Fahrersitz und ließ noch einmal sein furchtbares Unglück vor seinem inneren Auge vorbeiziehen.
Lilyglit — er konnte es nicht ertragen — war tot. Tot und unversichert, nichts wert: Und er stand nun mit seiner letzten verzweifelten Wette schwer in der Schuld von Percy Driffield.
Vernon Arkwright würde vor die Stewards zitiert werden und bezeugen, daß Jasper ihn bestochen hatte, Moggie Reillys Leben in Gefahr zu bringen.
Jasper begriff, daß er vielleicht selbst Rennbahnverbot erteilt bekommen würde, daß dieser Gipfel der Erniedrigung ihm nicht erspart bleiben würde. Er versank in Schulden, die er nicht bezahlen konnte, und er hatte das Vermögen seiner Frau verloren. Aber es war das Bewußtsein seiner Unehrenhaftigkeit, das seiner Selbstachtung den schwersten Schlag versetzt hatte.