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Sie wischte eine Träne von ihrer Wange ab und drückte sie gegen die glatte Borke von Pflanzers Stamm. Du kannst dies nicht fühlen, Pflanzer, du bist nicht in dem Baum. Aber ich glaube, daß du es trotzdem fühlst. Gott wird nicht zulassen, daß sich eine so edle Seele wie deine in der Dunkelheit verliert.

Es war an der Zeit zu gehen. Sanfte Brüderhände berührten sie, zerrten an ihr, zogen sie zu dem Labor, in dem Glas im Isolationsraum auf seinen Übergang ins dritte Leben wartete.

Als Ender Pflanzer besucht hatte, war er von medizinischen Geräten umgeben gewesen und hatte auf einem Bett gelegen. Jetzt sah es in der Isolationskammer völlig anders aus. Glas war bei perfekter Gesundheit, und obwohl er mit allen Überwachungsgeräten verkabelt war, war er nicht ans Bett gefesselt. Verspielt und glücklich konnte er kaum seinen Eifer verbergen, daß das Experiment durchgeführt wurde.

Und nun, da Ela und die anderen Pequeninos gekommen waren, konnte es beginnen.

Die einzige Mauer, die seine Isolation aufrecht erhielt, war das Disruptorfeld; außerhalb davon konnten die Pequeninos, die sich versammelt hatten, alle Vorgänge beobachten. Sie waren jedoch die einzigen, die offen zusahen. Vielleicht aus Rücksichtnahme auf die Gefühle der Pequeninos oder vielleicht, um eine Mauer zwischen ihnen und der Brutalität dieses Pequenino-Rituals zu haben, hatten sich die Menschen alle im Labor versammelt, wo sie nur durch ein Fenster und die Monitore beobachten konnten, was mit Glas geschehen würde.

Glas wartete, bis sich die steril gekleideten Brüder neben ihm befanden, mit Holzmessern in den Händen, bevor er Capim aufriß und kaute. Es war das Narkotikum, das es ihm erträglich machen würde. Aber es war auch das erste Mal, daß ein Bruder, der das dritte Leben erwartete, ein einheimisches Gras kaute, das keinen Descolada-Virus enthielt. Falls Elas neuer Virus funktionierte, würde dieses Capim bewirken, was das von der Descolada beherrschte Capim immer bewirkt hatte.

»Wenn ich ins dritte Leben überwechsle«, sagte Glas, »gebührt die Ehre Gott und seinem Diener Pflanzer, aber nicht mir.«

Es war nur angemessen, daß Glas mit seinen letzten Worten in der Brudersprache Pflanzer lobte. Doch seine Großzügigkeit änderte nichts an der Tatsache, daß der Gedanken an Pflanzers Opfer bei vielen Menschen Tränen hervorrief; so schwer es auch sein mochte, die Gefühle der Pequeninos zu deuten, hatte Ender keinen Zweifel, daß viele der Geräusche, die die Pequeninos draußen von sich gaben, ebenfalls einem Weinen entsprachen oder zumindest einem anderen Gefühl, mit dem sie Pflanzers Andenken würdigten. Doch Glas irrte sich, wenn er glaubte, sein Opfer würde ihm keine Ehre einbringen. Alle wußten, daß ein Fehlschlag noch möglich war, daß trotz allem Anlaß zur Hoffnung, den sie hatten, keine Gewißheit bestand, daß Elas Recolada die Macht hatte, einen Bruder ins dritte Leben zu führen.

Die steril gekleideten Brüder hoben ihre Messer und machten sich an die Arbeit.

Diesmal bin nicht ich es, dachte Ender. Gott sei gedankt, daß nicht ich ein Messer schwingen muß, um den Tod eines Bruders zu verursachen.

Doch er wandte den Blick nicht ab, wie so viele andere im Labor. Das Blut und die Eingeweide waren ihm nicht neu, und obwohl es das nicht angenehmer machte, wußte er zumindest, daß er es ertragen konnte. Und daß Glas es ertragen konnte. Ender konnte es ertragen, es zu beobachten. Das mußte man doch von einem Sprecher für die Toten erwarten, oder nicht? Etwas mitanzusehen. Er beobachtete alles, was er von dem Ritual sehen konnte, wie sie Glas' lebenden Körper öffneten und seine Organe in die Erde pflanzten, damit der Baum wachsen konnte, während Glas' Verstand noch wachsam und lebendig war. Während des gesamten Rituals gab Glas kein Geräusch von sich, machte Glas keine Bewegung, die auf Schmerz hinwies. Entweder war sein Mut größer, als sie es sich vorstellen konnten, oder die Recolada hatte im Capim gewirkt, so daß das Gras seine narkotischen Eigenschaften bewahrt hatte.

Endlich war es vollbracht, und die Brüder, die ihn ins dritte Leben geführt hatten, kehrten in den Sterilraum zurück, wo sie ihre Anzüge ablegten, sobald sie von der Recolada und dem viriziden Bakterium gesäubert worden waren. Nackt gingen sie wieder in das Labor. Sie waren sehr ernst, doch Ender glaubte, die Aufregung und Begeisterung sehen zu können, die sie verbargen. Alles war gut verlaufen. Sie hatten gespürt, daß Glas' Körper auf sie reagierte. Innerhalb von Stunden, vielleicht auch nur Minuten müßten die ersten Blätter des jungen Baumes sprießen. Und sie waren zutiefst überzeugt, daß es geschehen würde.

Ender bemerkte auch, daß einer von ihnen ein Priester war. Er fragte sich, was der Bischof sagen würde, wenn er davon wüßte. Der alte Peregrino hatte sich als durchaus fähig erwiesen, eine außerirdische Spezies in den katholischen Glauben zu integrieren und Rituale und Lehren zu übernehmen, die zu ihren besonderen Bedürfnissen paßten. Doch das änderte nichts an der Tatsache, daß Peregrino ein alter Mann war, dem die Vorstellung nicht gefiel, daß Priester an Ritualen teilnahmen, die trotz ihrer deutlichen Ähnlichkeit mit der Kreuzigung nicht zu den anerkannten Sakramenten gehörten. Nun, diese Brüder wußten, was sie taten. Ob sie dem Bischof nun gesagt hatten oder nicht, daß einer seiner Priester an dem Ritual teilnahm, Ender würde es nicht erwähnen, genausowenig wie einer der anderen anwesenden Menschen, falls es überhaupt einem aufgefallen war.

Ja, der Baum wuchs. Die Blätter sprossen, während sie zusahen. Doch es würde noch viele Stunden, vielleicht sogar Tage dauern, bevor sie wußten, ob es ein Vaterbaum war, ob Glas noch lebte und sein Bewußtsein sich darin befand. Eine Zeit des Wartens, in der Gras' Baum in völliger Isolation wachsen mußte.

Wenn ich nur einen Ort finden könnte, dachte Ender, an dem ich mich ebenfalls in völliger Isolation befände, an dem ich ohne Einmischung über die seltsamen Dinge nachdenken könnte, die mir widerfahren sind.

Doch er war kein Pequenino, und das Unbehagen, an dem er litt, stammte nicht von einem Virus, der getötet oder aus seinem Leben entfernt werden konnte. Seine Krankheit saß an der Wurzel seiner Identität, und er wußte nicht, ob er sie jemals loswerden konnte, ohne sich dabei selbst zu zerstören. Vielleicht, dachte er, repräsentieren Peter und Val die Gesamtheit dessen, was ich bin; wenn sie nicht mehr wären, wäre vielleicht nichts mehr übrig. Welcher Teil meines Seele, welche Tat meines Lebens kann nicht so erklärt werden, daß der eine oder die andere von ihnen seinen oder ihren Willen durch mich ausgeführt haben?

Bin ich die Summe meiner Nachkommen? Oder der Unterschied zwischen ihnen? Worin besteht die besondere Arithmetik meiner Seele?

Valentine versuchte, nicht ständig über dieses junge Mädchen nachzudenken, das Ender aus dem Außen mitgebracht hatte. Natürlich wußte sie, daß es ihr jüngeres Selbst war, wie er sich daran erinnerte, und sie fand es sogar ziemlich nett von ihm, in seinem Herzen eine so starke Erinnerung von ihr in diesem Alter zu bewahren. Von allen Menschen auf Lusitania wußte nur sie allein, warum die Erinnerung an sie in ausgerechnet diesem Alter in seinen unbewußten Gedanken verharrt war. Bis zu dieser Zeit hatte er sich in der Kampfschule befunden und war völlig von seiner Familie getrennt gewesen. Obwohl er es nicht wissen konnte, wußte sie, daß seine Eltern ihn fast vergessen hatten. Natürlich nicht in der Hinsicht, daß es ihn gab, doch als Bestandteil ihres Lebens. Er war einfach nicht mehr da, sie waren nicht mehr verantwortlich für ihn. Sie hatten ihn dem Staat übergeben, waren der Sorge für ihn entbunden worden. Wäre er tot gewesen, wäre er eher ein Teil ihres Lebens geblieben; doch so konnten sie nicht einmal ein Grab besuchen. Valentine machte ihnen deshalb keine Vorhaltungen; diese Einstellung bewies, daß sie nicht unterzukriegen und anpassungsfähig waren. Aber sie war nicht imstande gewesen, es ihnen gleichzutun. Ender war immer bei ihr, in ihrem Herzen. Und als Ender dann, nachdem er allen Herausforderungen begegnet war, die man ihm in der Kampfschule vorgeworfen hatte, entschlossen war, das ganze Unternehmen aufzugeben, war der Offizier, der ihn in ein dienstbares Werkzeug verwandeln sollte, zu ihr gekommen. Hatte sie zu Ender gebracht. Hatte dafür gesorgt, daß sie eine Zeitlang zusammen sein konnten – derselbe Mann, der sie auseinandergerissen und so tiefe Wunden in ihren Herzen zurückgelassen hatte. Sie hatte ihren Bruder damals geheilt – soweit wiederhergestellt, daß er weitermachen und die Menschheit vor der Vernichtung durch die Krabbler bewahren konnte.