Vor Anbruch der Nacht wußte jeder Vaterbaum in jedem Wald alles, was Mensch wußte: von den Plänen der Menschen und seiner Einschätzung, wie weit man ihnen vertrauen konnte. Die meisten pflichteten ihm bei – wir werden die Menschen für den Augenblick gewähren lassen. Doch wir werden sie sorgsam beobachten und uns auf eine Zeit vorbereiten, die vielleicht kommen wird, obwohl wir es nicht hoffen wollen, wenn die Menschen und Pequeninos gegeneinander in den Krieg ziehen. Wir können nicht kämpfen und auf den Sieg hoffen – doch vielleicht können wir, bevor sie uns abschlachten, einen Weg finden, daß einigen von uns die Flucht gelingt.
Und so hatten sie noch vor Anbruch der Morgendämmerung Pläne und Vorkehrungen mit der Schwarmkönigin geschmiedet, der einzigen nichtmenschlichen Wesenheit auf Lusitania, der eine Hochtechnologie zur Verfügung stand. Beim nächsten Sonnenuntergang würde die Konstruktion eines Sternenschiffes, mit dem sie Lusitania verlassen konnten, bereits begonnen haben.
Kapitel 7
Die geheime Magd
›Stimmt es, daß du in alten Zeiten, als du deine Sternenschiffe ausschicktest, um viele Welten zu besiedeln, immer miteinander sprechen konntest, als stündest du in demselben Wald?‹
›Wir nehmen an, daß es für euch genauso sein wird. Wenn die neuen Vaterbäume gewachsen sind, werden sie bei euch sein. Bei philotischen Verbindungen spielen Entfernungen keine Rolle.‹
›Aber werden wir verbunden sein? Wir werden keine Bäume auf die Reise schicken. Nur Brüder, ein paar Frauen und einhundert kleine Mütter, die neue Generationen gebären werden. Die Reise wird mindestens Jahrzehnte dauern. Nach der Ankunft werden die besten Brüder ins dritte Leben weitergeschickt werden, doch es wird wenigstens ein Jahr dauern, bevor die ersten Vaterbäume alt genug sind, um Kleine zu zeugen. Wie wird der erste Vater auf dieser neuen Welt wissen, wie er mit uns sprechen soll? Wie können wir ihn begrüßen, wenn wir nicht wissen, wo er ist?‹
Schweiß rann Qing-jaos Gesicht herab. Die Tropfen flossen zur Nasenspitze hinab. Von dort tropfte der Schweiß in das schlammige Wasser des Reisfeldes oder auf die neuen Reispflanzen, die sich nur knapp über die Wasserfläche erhoben.
»Warum wischt Ihr nicht Euer Gesicht ab, Heilige?« Qing-jao blickte auf, um zu sehen, wer ihr nahe genug war, um mit ihr zu sprechen. Normalerweise hielten sich die anderen bei ihrer Schicht nicht in ihrer Nähe auf – es machte sie zu nervös, mit einer Gottberührten zusammen zu sein.
Es war ein Mädchen, jünger als Qing-jao, vielleicht vierzehn Jahre alt, mit knabenhaftem Körper und sehr kurz geschnittenem Haar. Es betrachtete Qing-jao mit freimütiger Neugier. Es war eine Offenheit an ihr, ein völliger Mangel an Scheuheit, den Qing-jao seltsam und etwas unangenehm fand. Ihr erster Gedanke war, das Mädchen zu ignorieren.
Doch es wäre arrogant, es zu ignorieren. Genausogut könnte sie sagen: Weil die Götter zu mir sprechen, muß ich nicht antworten, wenn man mich etwas fragt. Niemand würde auch nur vermuten, daß sie einzig und allein nicht antwortete, weil die unmögliche Aufgabe, die der große Han Fei-tzu ihr gestellt hatte, sie so sehr beschäftigte, daß es fast schmerzhaft war, an etwas anderes zu denken.
Sie antwortete – aber mit einer Frage. »Warum sollte ich mir das Gesicht abwischen?«
»Kitzelt es nicht? Der herabtropfende Schweiß? Dringt er nicht in Eure Augen und beißt?«
Qing-jao senkte das Gesicht, um einen Augenblick lang weiterzuarbeiten. Es kitzelte wirklich, und der Schweiß brannte in ihren Augen. In der Tat war es ziemlich unangenehm und ärgerlich. Vorsichtig richtete sich Qing-jao auf – und nun bemerkte sie den Schmerz in ihrem Rücken. »Ja«, sagte sie zu dem Mädchen. »Es kitzelt und brennt.«
»Dann wischt ihn ab«, sagte das Mädchen. »Mit Eurem Ärmel.«
Qing-jao betrachtete ihren Ärmel. Er war bereits naß von dem Schweiß ihrer Arme. »Hilft es, wenn ich das Gesicht abwische?« fragte sie.
Nun war es an dem Mädchen, etwas herauszufinden, woran es nicht gedacht hatte. Einen Augenblick lang schaute es nachdenklich drein; dann wischte es ihre Stirn mit dem Ärmel ab.
Es grinste. »Nein, Heilige. Es hilft nicht.«
Qing-jao nickte ernst und bückte sich wieder zu ihrer Arbeit hinab. Doch nun störte sie das Kitzeln des Schweißes, das Brennen in den Augen, der Schmerz im Rücken. Ihr Unbehagen lenkte sie von ihren Gedanken ab. Das Mädchen hatte ihr Elend vergrößert, indem es darauf hingewiesen hatte – und Qing-jao ironischerweise, indem es sie auf das Elend ihres Körpers aufmerksam machte, von dem Hämmern der Fragen in ihrem Geist befreit.
Qing-jao begann zu lachen.
»Lacht Ihr über mich, Heilige?« fragte das Mädchen.
»Ich danke dir auf meine Art«, sagte Qing-jao. »Du hast eine große Last von meinem Herzen genommen, wenn auch nur einen Augenblick lang.«
»Ihr lacht über mich, weil ich Euch gesagt habe, Ihr sollt Eure Stirn abwischen, obwohl es gar nicht hilft.«
»Nein, deshalb lache ich nicht«, sagte Qing-jao. Sie richtete sich erneut auf und sah dem Mädchen in die Augen. »Ich lüge nicht.«
Das Mädchen wirkte beschämt – aber längst nicht so beschämt, wie es hätte der Fall sein sollen. Wenn die Gottberührten einen Tonfall anschlugen wie Qing-jao gerade, verbeugten sich die anderen augenblicklich und zeigten Respekt. Doch dieses Mädchen hörte nur zu, schätzte Qing-jaos Worte ab und nickte dann.
Für Qing-jao gab es nur eine Schlußfolgerung. »Sprechen die Götter auch zu dir?« fragte sie.
Das Mädchen riß die Augen auf. »Zu mir?« fragte es. »Meine Eltern sind beide sehr niedrige Menschen. Mein Vater schaufelt auf den Feldern Dünger, und meine Mutter spült in einem Restaurant.«
Das war natürlich keine Antwort. Obwohl die Götter am häufigsten die Kinder derer auswählten, zu denen sie sprachen, war es auch schon vorgekommen, daß sie zu einigen gesprochen hatten, deren Eltern die Stimme der Götter nie gehört hatten. Doch im allgemeinen nahm man an, daß die Götter kein Interesse an einem hatten, wenn die Eltern aus einer sehr niedrigen Schicht stammten, und in der Tat geschah es nur selten, daß die Götter zu jenen sprachen, deren Eltern nicht gebildet waren.
»Wie heißt du?« fragte Qing-jao.
»Si Wang-mu«, sagte das Mädchen.
Qing-jao schnappte überrascht nach Luft und hielt dann die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Doch Wang-mu wirkte nicht wütend – sie verzog nur das Gesicht und schaute ungeduldig drein.
»Es tut mir leid«, sagte Qing-jao, als sie wieder sprechen konnte. »Aber das ist der Name der…«
»Der Königlichen Mutter des Westens«, sagte Wang-mu. »Kann ich etwas dafür, daß meine Eltern diesen Namen für mich ausgesucht haben?«
»Es ist ein edler Name«, sagte Qing-jao. »Meine Vorfahrin-des-Herzens war eine große Frau, aber sie war nur eine Sterbliche, eine Dichterin. Die deine ist eine der ältesten Göttinnen.«
»Was nutzt mir das?« fragte Wang-mu. »Es war anmaßend von meinen Eltern, mich nach solch einer ehrwürdigen Göttin zu nennen. Deshalb werden die Götter nie mit mir sprechen.«
Es machte Qing-jao traurig, Wang-mu mit solcher Verbitterung sprechen zu hören. Hätte sie nur gewußt, wie bereitwillig Qing-jao mit ihr getauscht hätte! Von der Stimme der Götter frei zu sein! Niemals niederknien und die Linien auf dem Holz verfolgen, niemals die Hände waschen zu müssen, außer, sie waren wirklich schmutzig…
Doch das konnte Qing-jao dem Mädchen nicht erklären. Wie sollte sie es verstehen? Für Wang-mu gehörten die Gottberührten der privilegierten Elite an, waren unendlich klug und unnahbar. Es würde wie eine Lüge klingen, wenn Qing-jao ihr erklärte, daß die Bürden der Gottberührten viel größer waren als die Entlohnungen.