Die erste Erklärung war durch die Art und Weise, wie die Flotte reiste, ausgeschlossen. Die Sternenschiffe flogen einfach nicht dicht genug beieinander, als daß irgendein bekanntes natürliches Phänomen sie alle auf einmal hätte vernichten können. Die Flotte hatte kein Rendezvous durchgeführt – der Verkürzer machte so etwas zur reinen Zeitverschwendung. Statt dessen waren alle Schiffe von dem Punkt aus, an dem sie sich zufällig befanden, als sie der Flotte zugeteilt wurden, nach Lusitania aufgebrochen. Selbst jetzt, wo nur noch ein paar Lichtjahre verlieben, bevor sie sich allesamt im Orbit um Lusitanias Sonne befänden, waren sie so weit auseinander, daß kein vorstellbares Naturereignis gleichzeitig Auswirkungen auf sie alle gehabt haben könnte.
Die zweite Kategorie war durch die Tatsache, daß die gesamte Flotte verschwunden war, fast genauso unwahrscheinlich. Konnte irgendein von Menschen ersonnener Plan mit so einer perfekten Effizienz funktionieren – und ohne irgendeinen Hinweis auf eine Vorausplanung in irgendeiner Datenbank oder einem Persönlichkeitsprofil oder in den Kommunikations-Logbüchern, die bei Planetarien Computern unterhalten wurden? Es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß irgend jemand Daten verändert oder irgendwelche Kommunikationen getarnt hatte, um ja keine Spur zu hinterlassen. Wenn es ein Plan von Mitgliedern der Flotte war, dann einer ohne Beweise, Tarnungen oder Fehler.
Derselbe Mangel an Beweisen ließ die Vorstellung einer planetenweiten Verschwörung noch unwahrscheinlicher erscheinen. Und noch unwahrscheinlicher wurden all diese Möglichkeiten durch die reine Simultanität der Ereignisse. Soweit festgestellt werden konnte, hatte jedes Schiff die Verkürzer-Kommunikation fast genau zum gleichen Zeitpunkt abgebrochen. Es mochte eine Verzögerung von ein paar Sekunden oder sogar Minuten gegeben haben, doch insgesamt waren es keine fünf Minuten gewesen, kein Zeitraum, der genügt hätte, um auf einem Schiff eine Bemerkung über das Verschwinden eines anderen zu machen.
Die Zusammenfassung war in ihrer Einfachheit elegant. Es blieb nichts übrig. Die Beweise waren so vollständig, wie sie es jemals sein würden, und sie machten jede vorstellbare Erklärung unvorstellbar.
Warum tut Vater mir das an? fragte sie sich nicht zum ersten Mal.
Augenblicklich fühlte sie sich unrein, weil sie solch eine Frage überhaupt gestellt hatte. Sie mußte sich waschen, um die Unreinheit ihres Zweifels zu entfernen.
Doch sie wusch sich nicht. Statt dessen ließ sie die Stimme der Götter in sich anwachsen, ließ ihre Befehle dringlicher werden. Diesmal leistete sie ihren Widerstand nicht aus dem rechtschaffenen Drang, sich zu disziplinieren. Diesmal versuchte sie absichtlich, soviel Aufmerksamkeit der Götter wie möglich auf sich zu ziehen. Erst als sie vor der Not keuchte, sich zu reinigen, erst als sie bei der beiläufigsten Berührung ihrer eigenen Haut erschauderte, erst da stellte sie ihre Frage.
»Ihr habt es getan, nicht wahr?« sagte sie zu den Göttern. »Was kein Mensch vollbracht haben könnte, müßt ihr vollbracht haben. Ihr habt nach der Lusitania-Flotte gegriffen und sie von uns abgeschnitten.«
Die Antwort kam, aber nicht mit Worten, sondern dem ständig zunehmenden Drang, sich zu reinigen.
»Aber der Kongreß und die Admiralität sind nicht der Weg. Sie können sich die goldene Tür in die Stadt des Jadebergs im Westen nicht vorstellen. Wenn Vater zu ihnen sagt: ›Die Götter haben eure Flotte gestohlen, um euch für eure Verderbtheit zu bestrafen!‹, werden sie ihn nur verachten. Wenn sie ihn verachten, unseren größten lebenden Staatsmann, werden sie auch uns verachten. Und wenn sich Weg wegen Vater schämt, wird er ihn vernichten. Habt ihr das deshalb getan?«
Sie begann zu weinen. »Ich werde nicht zulassen, daß ihr meinen Vater vernichtet. Ich werde einen anderen Weg finden. Ich werde eine Antwort finden, die sie zufriedenstellt. Ich trotze euch!«
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die Götter ihr das überwältigendste Gefühl abscheulicher Unreinheit schickten, das sie jemals wahrgenommen hatte. Es war so stark, daß es ihr den Atem nahm, und sie stürzte nach vorn und hielt sich am Terminal fest. Sie versuchte zu sprechen, um Vergebung zu bitten, doch statt dessen würgte sie und schluckte heftig, um sich nicht zu übergeben. Sie hatte den Eindruck, ihre Hände würden Schleim auf allem verteilen, was sie berührten; als sie sich auf die Füße kämpfte, klebte ihr Gewand an ihrer Haut, als sei sie mit dicker, schwarzer Schmiere bedeckt.
Aber sie wusch sich nicht. Noch warf sie sich zu Boden und verfolgte Linien im Holz. Statt dessen taumelte sie zur Tür, um nach unten zum Zimmer ihres Vaters zu gehen.
Doch die Türschwelle hielt sie auf. Nicht körperlich, die Tür schwang so leicht auf wie immer, und trotzdem konnte sie nicht hindurchgehen. Sie hatte gehört, daß die Götter ihre ungehorsamen Diener auf Türschwellen aufhielten, doch am eigenen Leib hatte sie es noch nie erfahren. Sie begriff nicht, wie sie aufgehalten wurde. Ihr Körper konnte sich frei bewegen. Es gab keine Barriere. Doch sie empfand solch ein fürchterliches Entsetzen bei dem Gedanken, durch die Tür zu gehen, daß sie wußte, sie war einfach nicht dazu imstande. Sie wußte, die Götter verlangten irgendeine Buße von ihr, irgendeine Reinigung, oder sie würden niemals dulden, daß sie ihr Zimmer verließ. Nicht das Aufspüren von Holzmaserungen, kein Händewaschen. Was verlangten die Götter dann?
Und dann wußte sie auf einmal, wieso die Götter sie nicht durch diese Tür schreiten ließen. Es war der Eid, den Vater ihr auf Mutters Wunsch abverlangt hatte. Der Eid, daß sie den Göttern immer dienen würde, ganz gleich, was geschah. Und hier hatte sie ihnen zu trotzen versucht. Mutter, vergib mir! Ich werde den Göttern nicht trotzen. Aber ich muß trotzdem zu Vater gehen und ihm die schreckliche Zwangslage erklären, in die die Götter uns gebracht haben. Mutter, hilf mir, durch diese Tür zu gehen!
Wie als Antwort auf ihre Bitte wurde ihr klar, wie sie durch diese Tür gehen konnte. Sie mußte lediglich ihren Blick ganz fest in die Luft hinter der oberen rechten Türecke richten und, während sie den Blick niemals von dieser Stelle abwand, rückwärts mit dem rechten Fuß durch die Tür treten, die linke Hand hindurchstecken, sich dann nach links drehen, das linke Bein rückwärts über die Schwelle bringen und dann den rechten Arm. Es war kompliziert und schwierig, fast wie ein Tanz, doch indem sie sich ganz langsam und vorsichtig bewegte, schaffte sie es.
Die Tür gab sie frei. Und obwohl sie den Druck ihrer Unreinheit noch spürte, hatte seine Intensität etwas nachgelassen. Es war erträglich. Sie konnte atmen, ohne zu keuchen, sprechen, ohne zu würgen.
Sie ging nach unten und betätigte die kleine Glocke vor der Tür ihres Vaters.
»Ist es meine Tochter, meine ›Strahlend Helle‹?« fragte Vater.
»Ja, Ehrwürdiger«, sagte Qing-jao.
»Ich bin bereit, dich zu empfangen.«
Sie öffnete Vaters Tür und trat hindurch. Diesmal war kein Ritual erforderlich. Sie ging direkt zu ihm – er saß auf seinem Stuhl vor dem Terminal – und kniete vor ihm nieder.
»Ich habe mir deine Si Wang-mu angesehen«, sagte Vater, »und bin der Ansicht, deine erste Einstellung war eine würdige.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Vaters Worte Sinn ergaben. Si Wang-mu? Warum sprach Vater über eine uralte Göttin mit ihr? Sie sah überrascht auf und folgte dann dem Blick ihres Vaters – zu einem Dienstmädchen in einem sauberen grauen Gewand, das demütig kniete und zu Boden sah. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr das Mädchen vom Reisfeld wieder einfiel, bis sie sich daran erinnerte, daß sie Qing-jaos geheime Magd werden sollte. Wie hatte sie das nur vergessen können? Es war erst ein paar Stunden her, daß Qing-jao sie verlassen hatte. Doch in dieser Zeit hatte Qing-jao mit den Göttern gekämpft, und wenn sie auch nicht gewonnen hatte, so hatte sie doch auch nicht verloren. Was war die Einstellung eines Dienstmädchens im Vergleich zu einem Kampf mit den Göttern?