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Dick Francis

Zügellos

Das Buch

Der junge Regisseur Thomas Lyon kommt aus Hollywood zurück in seine Heimatstadt Newmarket und besucht dort den schwerkranken Rennsportjournalisten Valentine. Dieser will kurz vor seinem Tod seinen Frieden mit Gott machen und legt vor Thomas, den er - schon ganz verwirrt - für einen Priester hält, die letzte Beichte ab. Was der Regisseur dabei erfährt, ist so befremdend, daß er es zunächst gar nicht ernst nimmt - außerdem erfordert die Arbeit an seinem neuesten Film seine volle Aufmerksamkeit. Es handelt sich um einen Streifen über eine 26 Jahre zurückliegende Begebenheit. Damals wurde in Newmarket eine Frau erhängt aufgefunden - ob sie Selbstmord beging oder ob sie ermordet wurde, konnte nie geklärt werden. Thomas braucht aber einen Schluß für seinen Film. Er beginnt Nachforschungen anzustellen und das Skript sukzessive umzuschreiben, was nicht nur den eitlen Drehbuchautor verärgert, es verunsichert auch andere Leute, die vor nichts zurückschrecken, um den Film zu verhindern -und vor allem die Wahrheit zu vertuschen.

"Seelen, dicht verschleiert, sind wir,

Mensch, du siehst den Menschen nicht;

So innig wir auch Zwiesprach’ halten,

Ein Schattenvorhang trübt die Sicht."

Christopher Pearce Cranch (1813-1893)

Kapitel 1

Der abgemagerte alte Mann, der langsam an Knochenkrebs starb, saß wie immer in seinem großen Armsessel, und Tränen einsamen Schmerzes liefen an seinen eingefallenen Wangen hinunter.

An diesem Dienstag, seinem letzten, verstärkte er in anhaltendem Schweigen krampfhaft den harten Griff um mein Handgelenk, während ich sah, wie seine Lippen unter der immensen Anstrengung, etwas zu sagen, zitterten und bebten.

»Pater.«

Endlich brachte er die Worte heraus, ein verzweifeltes Flüstern, geboren aus höchster Not. »Pater, ich muß beichten. Ich muß um Vergebung bitten.«

Überrascht und voll Mitgefühl sagte ich: »Aber. ich bin doch kein Priester.«

Er hörte nicht zu. Die schwache Stimme, die seine Verfassung besser spiegelte als die grimmig zupackende Hand, wiederholte einfach: »Pater. vergeben Sie mir.«

»Valentine«, sagte ich ruhig, »ich bin Thomas Lyon. Wissen Sie nicht mehr? Ich bin hier, um Ihnen vorzulesen.«

Sein äußeres Gesichtsfeld war noch halbwegs intakt, aber er konnte nichts mehr sehen, geschweige denn lesen,

was er direkt vor Augen hatte. Ich kam so etwa alle acht Tage vorbei, um ihm das Neueste aus den Rennsportbeilagen vorzutragen, und auch, damit seine geplagte, chronisch erschöpfte alte Schwester in Ruhe einkaufen gehen und ein Schwätzchen halten konnte.

Diesmal hatte ich ihm gar nicht vorgelesen. Als ich gekommen war, hatte er unter einem seiner in Abständen auftretenden Schmerzanfälle gelitten: Seine Schwester Dorothea hatte ihm einen Teelöffel flüssiges Morphin eingeflößt und danach Whisky mit Wasser, um die Wirkung zu beschleunigen.

Nach Rennsportneuigkeiten hatte ihm nicht der Sinn gestanden.

»Setzen Sie sich einfach zu ihm«, bat Dorothea. »Wie lange können Sie bleiben?«

»Zwei Stunden.«

Sie hatte sich auf die Zehen gestellt, mich dankbar auf die Wange geküßt und war davongeeilt, korpulent, Ende siebzig, immer offen und direkt.

Ich saß wie gewohnt auf einem Frisierhocker gleich neben dem alten Mann, der die Körpernähe suchte, als ob sie ihm das Sehen ersetzte.

Die flatterige Stimme kam wieder, drang angestrengt in den stillen Raum, entschlossen und vertraulich: »Ich bekenne vor Gott dem Allmächtigen und vor dir, mein Vater, daß ich maßlos gesündigt habe... und ich muß beichten... bevor ich. bevor.«

»Valentine«, wiederholte ich lauter, »ich bin kein Priester.«

Es war, als hätte er es nicht gehört. Er schien sich mit aller ihm noch verbliebenen Energie auf ein geistiges Würfelspiel ganz besonderer Art zu konzentrieren, auf einen

Wurf, mit dem er am Rand des Abgrunds noch die Hölle besiegen konnte.

»Ich bitte um Vergebung für meine Todsünde. bitte um Frieden mit Gott.«

Ich protestierte nicht mehr. Der alte Mann wußte, daß er sterben würde, daß der Tod nahe war. In den vergangenen Wochen hatten wir mit Gleichmut, ja sogar mit Humor über seine mangelnden Zukunftsaussichten gesprochen. Er dachte an sein langes Leben zurück. Er sagte mir, daß er mir testamentarisch alle seine Bücher vermacht habe. Wenn er überhaupt einmal eine religiöse Überzeugung geäußert hatte, dann die, daß der Gedanke an ein Leben nach dem Tod abergläubischer Quatsch sei.

Ich hatte nicht gewußt, daß er katholisch war.

»Ich bekenne«, sagte er, ».daß ich ihn umgebracht habe. Gott verzeihe mir. Demütig bitte ich um Vergebung. Ich bete zu Gott dem Allmächtigen, er sei mir gnädig.«

»Valentine.«

»Ich habe Derry das Messer gegeben, und ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht und über die ganze Sache nie ein Wort gesagt, und dafür klage ich mich an. und ich habe nur Lügen erzählt. mea culpa... was habe ich ihnen angetan. ihr Leben habe ich zerstört. und sie wußten es nicht, sie haben mich weiter gemocht. nur ich habe mich verachtet. bis heute. Pater, lassen Sie mich Buße tun. und sprechen Sie mich los. sagen Sie es. Ego te absolvo... Ich vergebe deine Sünden im Namen des Vaters. bitte. ich bitte Sie.«

Ich hatte von den Sünden, die er bekannte, noch nie etwas gehört. Seine Worte sprudelten hervor, als spräche er im Fieber, ohne erkennbaren Zusammenhang. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß er von einer schweren Schuld phantasierte, die es nicht gab.

Die Verzweiflung hinter seinem wiederholten Flehen stand jedoch außer Frage.

»Pater, sprechen Sie mich los. Bitte, Pater, sagen Sie die Formel. sprechen Sie.«

Ich konnte keinen Schaden darin sehen. Er wünschte sich verzweifelt, in Frieden zu sterben. Jeder Priester hätte ihm die Absolution erteilt: Sollte ich so hartherzig sein, sie ihm zu verweigern? Ich war nicht seines Glaubens, aber das konnte ich auch nachher noch mit meiner unsterblichen Seele abmachen.

Also kam ich seinem Wunsch nach. Ich sagte die Formel, förderte die Worte aus dem Gedächtnis zutage. Sagte sie auf Latein, da er sie offensichtlich so kannte und weil es mir weniger geflunkert erschien, als wenn ich sie unverblümt auf englisch ausgesprochen hätte.

»Ego te absolvo«, sagte ich.

Ein Schauer lief durch meinen Körper. Aberglaube, dachte ich.

Weitere Wörter stellten sich ein. Sie gingen mir von den Lippen. »Ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«

Ich vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Die bislang größte Gotteslästerung in meinem Leben. Möge Gott mir den Frevel verzeihen, dachte ich.

Die fürchterliche Gespanntheit des alten Mannes ließ nach. Die fast blinden, entzündeten Augen schlossen sich. Der Griff um mein Handgelenk lockerte sich - die alte Hand fiel herab. Sein Gesicht erschlaffte. Er lächelte leise und lag dann still.

Erschrocken tastete ich unter seiner Kinnbeuge nach dem Puls und fühlte erleichtert das dünne Klopfen. Er lag regungslos da. Ich schüttelte ihn ein wenig, doch er wachte nicht auf. Nach fünf Minuten schüttelte ich ihn noch einmal fester, und wieder reagierte er nicht. Unschlüssig stand ich von dem Platz an seiner Seite auf, ging zum Telefon und wählte die dick auf einem Block notierte Nummer seines Arztes.

Der Medizinmann war alles andere als erfreut.

»Ich hab dem alten Narren gesagt, daß er ins Krankenhaus gehört«, versetzte er. »Ich kann doch nicht in einer Tour rauskommen und ihm die Hand halten. Wer sind Sie überhaupt? Und wo ist Mrs. Pannier?«

»Ich bin zu Besuch«, sagte ich. »Mrs. Pannier ist einkaufen.«