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»Leidet er?« wollte der Arzt wissen.

»Jetzt nicht mehr. Mrs. Pannier hat ihm ein Schmerzmittel gegeben, bevor sie weg ist. Dann hat er geredet. Jetzt liegt er in einer Art Schlaf, aber ich kriege ihn nicht wach.«

Der Arzt legte mit einem halblaut geknurrten Fluch auf und überließ es mir, seine Absichten zu erraten.

Ich hoffte nur, daß er nicht schnurstracks einen Krankenwagen schickte mit heulender Sirene, geschäftigen Sanitätern und all dem unsanften Drumherum, das man den Todkranken anzutun pflegt. Valentine hatte friedlich in seinem Bett sterben wollen. Während ich dort wartete, bedauerte ich den Anruf beim Arzt und dachte, daß ich wahrscheinlich genau das in Gang gesetzt hatte, was Valentine unter allen Umständen vermeiden wollte.

Meine Dummheit bereuend, setzte ich mich dem ruhig schlafenden Mann gegenüber in einen Sessel, der bequemer war als der Hocker neben ihm.

Im Zimmer war es warm. Er trug einen blauen Baum-wollpyjama und hatte eine Wolldecke über den Knien. Die noch kahlen Zweige der Bäume draußen vor dem Fenster, an dem er saß, verhießen einen Frühling, den er nicht mehr erleben würde.

Der wie ein Arbeitszimmer gestaltete Raum, ganz von ihm geprägt, spiegelte eine ungewöhnliche Reise durch die Zeit wider, die mit körperlicher Schwerarbeit begonnen und im Journalismus geendet hatte. Als Sohn eines Hufschmieds war er von klein auf in das Schmiedehandwerk eingeführt worden, schon als Knirps hatte er in der Werkstatt des Vaters den Blasebalg bedient, so gut er es mit seinen dünnen Armen nur konnte, die jungen Augen erregt von dem Lärm und dem Feuer. Es hatte nie ein Zweifel bestanden, daß er diesen Beruf ergreifen würde, und erst nachdem er lange Jahre als Schmied tätig gewesen war, hatte er sich anderen Dingen zugewandt.

Gerahmte, schon verblaßte Fotos an den Wänden zeigten einen jungen Valentine mit der Arm- und Brustmuskulatur eines Riesen, einen mehrfach ausgezeichneten Kraftmeier mit dem fröhlichen breiten Grinsen der Unschuld. Aber mit dem Idyll von der Dorfschmiede unterm Kastanienbaum war es schon damals vorbei. Der ältere Valentine war mit Werkzeug und tragbarer Kohlenpfanne im Auto von Kunde zu Kunde gefahren. Jahrelang hatte er auch die Pferde im Rennstall meines Großvaters beschlagen. Er hatte nach den Füßen der Ponys gesehen, die ich reiten durfte. Obwohl er mir damals schon wie ein weiser Mann von sagenhaftem Alter vorgekommen war, wußte ich jetzt, daß er, als ich zehn war, erst fünfundsechzig gewesen war.

Seine Bildung hatte sich ursprünglich auf das Lesen von Rennsportzeitungen, das Schreiben von Lieferscheinen für die Kunden und das Rechnen für die Kosten-NutzenKalkulation beschränkt. Erst als er in den Vierzigern war, hatte er seinen Horizont erweitert und geistige Fähigkeiten entwickelt, die seiner Muskelkraft entsprachen. Auslösend dafür, so hatte er mir in den vergangenen Wochen der Entkräftung erzählt, war die moderne Art des Schmiedens gewesen, bei der man, statt Beschläge nach Maß zu fertigen, Hufe so bearbeitete, daß die in Massenproduktion hergestellten Eisen auf sie paßten. Wo es früher weißglühende Eisenstäbe in Form zu bringen galt, wurden jetzt weichere Metalle kalt gehämmert.

Er hatte angefangen, Geschichtsliteratur und Biographien zu lesen, erst nur zum Thema Rennsport, später in breiterem Rahmen. Schüchtern war er dazu übergegangen, die Zeitungen, die er täglich las, mit anonymen Glossen und Anekdoten zu beliefern. Er schrieb über Pferde, Menschen, Ereignisse und aktuelle Fragen. Eine Zeitung bot ihm eine eigene Kolumne mit geregelter Bezahlung an und gab ihm die Gelegenheit, sich einen Namen zu erschrei-ben. Während er noch seinem alten Beruf nachging, wurde Valentine zu einer geachteten Institution im Journalismus, gern gelesen und bewundert für seine Einsichten und seinen Esprit. Mit dem Schwinden der Körperkraft war sein journalistisches Können gewachsen. Er hatte geschrieben, bis er über achtzig, bis er halb blind war, ja bis vor vier Wochen die Endphase im Kampf gegen den Krebs begann.

Und dieser alte Mann, geistreich, weltklug, hochgeehrt, hatte nun in heller Angst ein offenbar unerträgliches Geheimnis ausgeplaudert.

»Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht.«

Das sollte sicher heißen, daß er sich Vorwürfe wegen eines fehlerhaften Beschlags machte - daß durch einen bösen Zufall ein Jockey wegen eines losen Hufnagels tödlich verunglückt war.

Nicht umsonst hatte Valentine Sorgfalt zum Prinzip erhoben und zur Veranschaulichung immer wieder einmal die Geschichte vom Hufnagel erzählt. Ein Nagel war schuld am Untergang eines Königreiches. Kleine Versehen konnten verheerende Folgen haben.

Wieder dachte ich, daß hier ein Sterbender geringfügige alte Sünden zu kolossalen Verbrechen aufbauschte. Armer alter Valentine. Ich beobachtete ihn im Schlaf, das weiße Haar so dünn auf seinem Schädel, große braune Flecke auf der Haut.

Lange Zeit kam niemand. Valentines Atmung wurde schwerer, aber er schnarchte nicht. Ich blickte mich in dem vertrauten Zimmer um, sah auf die Pferdefotos, die ich in den letzten Monaten oft hatte betrachten können, auf die gerahmten Auszeichnungen an der dunkelgrünen Wand, die geblümten Vorhänge, den abgetretenen braunen Teppich, die mit Nägeln beschlagenen Ledersessel, die unentbehrliche Reiseschreibmaschine auf dem schlichten Schreibtisch, die tapfer sich haltende Grünpflanze.

Nichts hatte sich in all den Wochen geändert: nur die Zeit des alten Mannes lief ab.

Auf einer Seite standen in einem wandhohen Regal die Bücher, die wohl bald mir gehören würden. Da waren zig Jahrgänge gesammelter Berichte über Tausende und Abertausende von vergangenen Rennen, und der Name jedes Pferdes, das Valentine vor dem Start beschlagen hatte, war mit einem kleinen roten Punkt versehen.

Sieger - und es waren Hunderte - hatten ein Ausrufezeichen erhalten.

Unter den Rennberichten standen eine vielbändige Enzyklopädie und reihenweise mit leuchtend bunten Schutzumschlägen versehene Lebensgeschichten unlängst verstorbener Rennsportgrößen, ihr Elan und ihr reizbares Temperament zu Erinnerungen auf Papier verblaßt. Ich hatte viele dieser Leute gekannt. Mein Großvater war ei-ner von ihnen gewesen. Ihre Welt, ihre Leidenschaften, ihre Erfolge gerieten langsam in Vergessenheit, und die jungen Rennreiter, die ich mit zehn bewundert hatte, waren inzwischen Großväter.

Ich fragte mich, wer Valentines Lebensgeschichte aufschreiben würde, ein lohnender Gegenstand, falls ihn je einer in Angriff nehmen wollte. Er hatte sich standhaft geweigert, es selbst zu tun, obwohl die Anstöße von allen Seiten gekommen waren. Zu langweilig, hatte er gesagt. Die Welt von morgen sei viel interessanter.

Dorothea kam erst eine halbe Stunde später wieder, entschuldigte sich dafür und bemühte sich vergebens, ihren Bruder aufzuwecken. Ich sagte ihr, ich hätte ohne Erfolg ihren Arzt angerufen, und das wunderte sie nicht.

»Er meint, Valentine gehört ins Krankenhaus«, sagte sie. »Valentine will aber nicht hin. Er beschimpft den Arzt und umgekehrt.«

Sie zuckte resigniert die Achseln. »Der Doktor wird schon rechtzeitig kommen. Er kommt meistens rechtzeitig.«

»Aber ich muß jetzt gehen«, sagte ich bedauernd. »Ich müßte längst in einer Besprechung sein.«

Ich zögerte. »Sind Sie eigentlich katholisch?« fragte ich. »Weil. Valentine hat nach einem Priester verlangt.«

»Einem Priester?«

Sie staunte. »Er hat den ganzen Morgen phantasiert. sein Verstand will nicht mehr. aber der alte Mostkopf würde nie nach einem Priester verlangen.«

»Ich dachte nur. vielleicht. die Sterbesakramente.«

Dorothea sah mich mit liebenswerter schwesterlicher Gereiztheit an.

»Unsere Mutter war römisch-katholisch, aber Vater nicht. Alles Mumpitz, meinte er immer. Valentine und ich sind ohne Kirche aufgewachsen, und es hat uns nicht geschadet. Er war sechzehn und ich elf, als Mutter starb. Da wurde eine Messe für sie gelesen, und Vater ist auch mit uns hingegangen, aber er fand das sehr anstrengend. Jedenfalls ist Valentine kein großer Sünder, höchstens daß er flucht oder so, und gerade jetzt, wo er so schwach ist, möchte er bestimmt keinen Priester um sich haben.«