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»Ich wollte es Ihnen nur sagen«, sagte ich.

»Es ist lieb, daß Sie ihn besuchen, Thomas, aber jetzt täuschen Sie sich.«

Sie schwieg. »Dem armen Jungen geht’s sehr schlecht, was?«

Sie sah besorgt auf ihn nieder. »Ob es viel schlimmer geworden ist?«

»Ich fürchte, ja.«

»Er stirbt.«

Sie nickte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Wir wußten ja, daß es kommt, aber wenn’s dann soweit ist. o je.«

»Er hat ein schönes Leben gehabt.«

Sie überging die unzulänglichen Worte und sagte gedankenverloren: »Ich werde so allein sein.«

»Könnten Sie nicht bei Ihrem Sohn leben?«

»Nein!«

Sie straffte sich verächtlich. »Paul ist fünfundvierzig und ein herrischer Wichtigtuer, so ungern ich das sage, und ich komme mit seiner Frau nicht aus. Sie haben drei widerwärtige Teenager, die ununterbrochen so laut Radio hören, daß die Wände zittern.«

Sie brach ab und strich ihrem reaktionslosen Bruder zärtlich über den Kopf. »Nein. Valentine und ich sind zusammengezogen, als seine Cathy starb und mein Bill von uns ging. Aber das wissen Sie ja. und wir haben uns immer gerngehabt, Valentine und ich, er wird mir fehlen. Er wird mir ganz schrecklich fehlen, aber ich bleibe hier.«

Sie schluckte. »Ans Alleinsein gewöhne ich mich schon wieder, genau wie nach dem Tod von Bill.«

Dorothea, so schien mir, besaß wie viele ältere Frauen eine resolute Selbständigkeit, die auch da noch standhielt, wo jüngere Leute ins Schleudern gerieten. Unterstützt von der Gemeindeschwester, die einmal täglich vorbeikam, hatte sie ihren kranken Bruder gepflegt, sich mehr und mehr um ihn gekümmert und oft auch ihren eigenen Schlaf geopfert, um ihn zu trösten, wenn er nachts wachlag, und ihm Schmerzmittel zu geben. Sie mochte um ihn trauern, wenn er tot war, doch ihre dunkel geränderten Augen verrieten, daß sie dringend Ruhe brauchte.

Sie setzte sich müde auf den Frisierhocker und hielt ihrem Bruder die Hand. Er atmete langsam und flach, mit einem rasselnden Geräusch. Durch das Fenster neben Valentine fiel schwaches Dämmerlicht auf die beiden Alten; Licht und Schatten unterstrichen das rundlich Fürsorgliche der einen und das knochendürr Abhängige des anderen; sein naher Tod war so offensichtlich, als hätte eine Sense über ihren Köpfen geschwebt.

Ich wünschte, ich hätte eine Kamera gehabt. Ich wünschte sogar eine ganze Kameracrew herbei. Mein Alltag war es, Stimmungen einzufangen, flüchtige Bilder festzuhalten, um Grundwahrheiten damit zu erhellen. Ich arbeitete mit der Unwirklichkeit, um aus der Illusion Funken der Erkenntnis zu schlagen.

Ich drehte Filme.

Mir war bereits klar, daß ich das stille Drama hier eines Tages rekonstruieren und verwerten würde, als ich auf die Uhr sah und Dorothea bat, ihr Telefon benutzen zu dürfen.

»Natürlich, Thomas. Es steht auf dem Schreibtisch.«

Ich erreichte Ed, meinen ersten Assistenten, der wie üblich durch meine Abwesenheit aus der Fassung gebracht schien.

»Es läßt sich nicht ändern«, sagte ich. »Ich habe mich verspätet. Sind alle da? Besorgen Sie ihnen was zu trinken. Halten Sie sie bei Laune, aber daß sich Jimmy nicht mehr als zwei Gin Tonic reinpfeift, und sehen Sie zu, daß wir von den Änderungen im Skript genug Kopien haben. Okay? Gut. Bis gleich.«

Es tat mir leid, Dorothea zu einem solchen Zeitpunkt alleinlassen zu müssen, aber ich hatte den Besuch in einen Terminplan eingeschoben, der eigentlich gar keinen Raum dafür ließ, auch diese Woche wieder mein Versprechen einzulösen.

Vor drei Monaten, in der ersten Vorbereitungsphase des Films, an dem ich jetzt arbeitete, hatte ich Valentine einen kurzen Höflichkeitsbesuch abgestattet, eine Geste, um ihn wissen zu lassen, daß ich mich aus Großvaters Zeiten noch an ihn erinnerte und seine Entwicklung zum Weisen, wenn auch von fern, stets bewundert hatte.

»Von wegen Weiser!«

Er hatte es als Schmeichelei abgetan, sich aber trotzdem darüber gefreut. »Ich sehe neuerdings nicht mehr gut, mein Junge. Könnten Sie mir ein bißchen vorlesen?«

Er lebte am äußeren Rand von Newmarket, der Stadt, die seit langem als Wiege und Zentrum der internationalen Rennsportindustrie galt. »Stammsitz« nannte es die Fachpresse. Fünfzehnhundert ausgesuchte Vollblüter rasten hier über das windgepeitschte Trainingsgelände und die weiten schwierigen Arbeitsbahnen, und immer wieder einmal zeugten sie Wunderkinder, die ihre glorreichen Gene an kommende Generationen weitergaben. Ein altes, sehr rentables Gewerbe, die Züchtung schneller Pferde.

Ich war im Begriff zu gehen, als es an der Haustür klingelte, und um Dorotheas müde Füße zu schonen, öffnete ich.

Draußen stand ein untersetzter Mann um die Dreißig, der ungeduldig auf die Uhr sah.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich.

Er warf mir einen kurzen Blick zu und rief an mir vorbei: »Dorothea?«

Trotz ihrer Ermüdung kam sie aus Valentines Zimmer und sagte unglücklich: »Er liegt. im Koma, glaube ich. Kommen Sie rein. Das ist Thomas Lyon, der Valentine vorliest - ich habe es Ihnen erzählt.«

Als wäre es ihr nachträglich eingefallen, wedelte sie mit der Hand und ergänzte die Vorstellung: »Robbie Gill, unser Hausarzt.«

Robbie Gill hatte rote Haare, einen schottischen Akzent und für den Umgang mit Kranken oder ihren Angehörigen nicht genug Talent zum Plaudern. Er trat mit seiner Arzttasche in Valentines Zimmer und klappte sie auf. Mit dem Daumen zog er die Augenlider des Patienten hoch und umfaßte nachdenklich eines der dünnen Handgelenke. Dann hantierte er schweigend mit Stethoskop, Spritzen und Tupfern. »Es ist besser, wir bringen ihn ins Bett«, sagte er schließlich. Erfreulicherweise kein Wort von einer Einweisung ins Krankenhaus.

»Geht’s mit ihm -?« sagte Dorothea angespannt und ließ die Frage offen, da sie kein Ja hören wollte.

»Zu Ende?« sagte Robbie Gill halbwegs freundlich auf seine schroffe Art. »In ein paar Tagen, denke ich. Schwer zu sagen. Sein altes Herz ist noch gut dabei. Ich glaube zwar nicht, daß er noch mal aufwacht, es könnte aber sein. Kommt auch darauf an, was er will.«

»Was er will? Wie meinen Sie das?« fragte ich erstaunt.

Er ging ausführlich darauf ein, vor allem wohl Dorothea zuliebe, aber auch wie ein Lehrer, dem es Vergnügen bereitet, Fachwissen weiterzugeben.

»Alte Leute«, sagte er, »bleiben sehr häufig am Leben, wenn es noch etwas gibt, was sie unbedingt tun wollen, und danach sterben sie dann recht bald. Diese Woche ist mir eine Patientin gestorben, die noch erleben wollte, daß ihr Enkel heiratet. Sie ging zu seiner Hochzeit und feierte schön, und zwei Tage später war sie tot. So geht das oft. Wenn Valentine nicht noch unerledigte Geschäfte hat, kann es sein, daß er uns jetzt bald verläßt. Hätte er noch eine Auszeichnung zu erwarten oder so etwas, sähe das schon anders aus. Er ist ein willensstarker Mensch, und da können selbst bei so weit fortgeschrittenem Krebs erstaunliche Sachen passieren.«

Dorothea schüttelte traurig den Kopf. »Keine Auszeichnungen.«

»Dann sollten wir ihn bereitmachen. Ich habe mit Schwester Davies vereinbart, daß sie heute abend spät vorbeikommt. Sie gibt ihm noch eine Spritze, damit er heute nacht schmerzfrei ist, und morgen früh komme ich zuallererst wieder hierher. Der alte Krauter hat mich überlistet, verdammt. Er hat seinen Kopf durchgesetzt. Jetzt überweise ich ihn nicht mehr. Er kann hier zu Hause sterben.«

Dorotheas Tränen dankten ihm.

»Es ist ein Glück, daß er Sie hat«, sagte der Arzt zu ihr, »machen Sie sich nur nicht selber krank.«

Er sah abwägend von ihr zu mir hoch und meinte: »Sie sind kräftiger als wir. Könnten Sie ihn tragen? Schwester Davies bringt ihn sonst immer mit Dorothea zusammen rüber, aber normalerweise ist er bei Bewußtsein und geht mit, so gut er kann. Schaffen Sie ihn allein?«