»Sie haben sie also nicht gefunden?«
»Nein. Da hatte ich wohl Glück. Einer von meinen Stallangestellten fand sie, als ich unterwegs nach York zum Pferderennen war. Die Polizei hat mich abgeholt, und schon da stand für sie fest, daß ich Sonia umgebracht hatte. Sie war in einer Box, die damals leerstand. Dem armen Burschen, der sie gefunden hat, kam acht Tage lang das Essen hoch.« »Dachten Sie, sie habe sich selbst erhängt?«
»Dafür war sie nicht der Typ.«
Langgehegte Zweifel sprachen aus seiner Miene. »Da war ein Stapel Heuballen, von dem könnte sie runtergesprungen sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit hat nie jemand herausgebracht, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, das ist auch besser so. Ich habe in diesem Drumbeat gelesen, daß Sie der Sache nachgehen. Mir wäre es offen gestanden lieber, Sie ließen das sein. Ich will nicht, daß meine Frau und Lucy beunruhigt werden. Das wäre ihnen gegenüber nicht anständig. Erfinden Sie doch Ihre Filmstory, wie Sie sie brauchen. Solange Sie’s nicht hinstellen, als hätte ich sie umgebracht, soll es mir recht sein.«
»In dem Film bringen Sie sie nicht um«, sagte ich.
»Dann ist es ja gut.«
»Aber ich muß plausibel machen, warum sie gestorben ist.«
Er sagte ruhig:«Sie haben ja gehört, ich weiß nicht, warum.«
»Ja, gut, aber Sie haben doch sicher darüber nachgedacht.«
Er schenkte mir ein waschechtes unbekümmertes Lächeln und schwieg, und ich bekam ein klares Bild davon, wie er sich seinerzeit den Ermittlungsbeamten präsentiert hatte: als fröhliche, undurchdringliche Backsteinmauer.
»In Howard Tylers Buch«, sagte ich, »phantasiert Yvonne von Jockeys als Liebhabern. Wieso, ich meine, haben Sie eine Ahnung, wie er darauf gekommen ist?«
Diesmal schien Jackson Wells innerlich zu lachen. »Howard Tyler hat mich nicht danach gefragt.«
»Nein«, stimmte ich zu. »Er sagte mir, er sei überhaupt nicht an Sie herangetreten.« »Ist er auch nicht. Ich erfuhr erst davon, als die Leute meinten, in dem Buch Unsichere Zeiten ginge es um Sonia und mich.«
»Und hat sie. hm. phantasiert?«
Wieder die starke innere Belustigung. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Kann schon sein. Die ganze Ehe war ja ein So-tun-als-ob. Wir waren Kinder, die Erwachsene spielten. Der Literat hat sich völlig in uns vertan. Wohlgemerkt, ich beklage mich nicht.«
»Aber die Traumliebhaber sind so ungewöhnlich«, be-harrte ich. »Wo hat er das her?«
Jackson Wells dachte ohne erkennbare Anspannung darüber nach.
»Ich glaube«, sagte er mir schließlich, »da sollten Sie mal ihre eingebildete Schwester fragen.«
»Schwester. meinen Sie die Witwe von Rupert Visbo-rough?«
Er nickte. »Audrey. Sonias Schwester. Audrey war mit einem Mitglied des Jockey Clubs verheiratet und hat mich das immer spüren lassen. Audrey hat Sonia gesagt, sie solle sich nicht an mich wegwerfen. Ich war ihr nicht gut genug, verstehen Sie?«
Er grinste unbekümmert. »Als ich das Buch las, hatte ich die ganze Zeit Audreys zickige Stimme im Ohr.«
Beeindruckt von der schlichten Schärfe dieser Wahrnehmung saß ich schweigend da und überlegte, was ich als nächstes fragen sollte; ob ich ihn fragen sollte oder konnte, wieso der gewaltsame Tod einer namenlosen jungen Schwägerin ein für allemal Rupert Visboroughs Chancen in der Politik verdorben hatte.
Waren auf rätselhafte Weise verstorbene Angehörige wirklich so verpönt in Westminster? Schwarze Schafe in der Familie mochten sich als peinlich erweisen, aber wenn schon die Sünden der Söhne und Töchter verziehen wurden, hätte der ungeklärte Tod einer entfernten Verwandten doch nicht so ins Gewicht fallen dürfen.
Ehe ich die Worte fand, öffnete sich die Tür, und Lucy erschien, sonnig wie ihr Vater.
»Mama möchte wissen, ob sie etwas anbieten kann, zum Beispiel was zu trinken?«
Ich nahm es als Rauswurf, den Mama damit beabsichtigt hatte, und stand auf.
Jackson Wells stellte mich seiner Tochter mit den Worten vor. »Lucy, das ist Thomas Lyon, die Personifizierung des bösen Filmemachers, wie gestern im Drumbeat zu lesen war.«
Ihre Augen weiteten sich, und mit der leisen Schalkhaftigkeit ihres Vaters sagte sie: »Im Fernsehen haben Sie die Hörner und den Pferdefuß ja gut versteckt! Ziemlich cool, mit Nash Rourke einen Film zu drehen.«
»Wollen Sie mitspielen?«
»Wie meinen Sie das?«
Ich erklärte, daß wir die Einwohner von Huntingdon als Publikum für unsere Aufnahme eines Renntages auf der Bahn anwarben.
»Wir brauchen Leute, die >Ooh< und >Aaah< rufen.«
»Und schreien: >Beweg deinen müden Arsch<?« grinste sie.
»Genau.«
»Papa?«
Ihr Vater war instinktiv dagegen. Als er den Kopf schüttelte, sagte ich: »Es braucht ja niemand zu wissen, wer Sie sind. Sagen Sie, Sie heißen Batwillow - und übrigens, was ist die Batwillow für ein Baum?« »Na, die Weide, aus der man Kricketschläger macht«, sagte sie, als hätte ich eine ziemlich dumme Frage gestellt.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Überhaupt nicht«, sagte ihr Vater. »Was glauben Sie denn, wo Kricketschläger herkommen? Die wachsen auf Bäumen.«
Sie beobachteten mein Gesicht. »Wir ziehen die Weiden am Ufer des Bachs«, sagte er. »Auf der Farm hier werden sie seit Generationen angepflanzt.«
Daß er Kricketschläger wachsen ließ, schien mir voll und ganz seinem Wesen zu entsprechen: Breite Schultern, mit denen er lockere Sechser über den Spielfeldrand schlug und schnelle Bälle zuverlässig abblockte, damit sie den Dreistab nicht trafen.
Lucys Mutter erschien neugierig an der Tür, eine freundliche Frau in rehbrauner Hose und einem riesigen braunen Pullover über einem cremefarbenen Rolli. Unbewußter Stil, dachte ich, genau wie die Tochter.
Jackson Wells erklärte meine Anwesenheit. Seiner Frau gefiel die Geschichte.
»Wir kommen natürlich alle«, sagte sie entschieden, »wenn Sie uns versprechen, daß wir Nash Rourke sehen!«
»Wie kann man nur so verkitscht sein?« meinte Lucy.
Ich sagte: »Morgen um zwei proben wir die Massenszenen. Daß Nash Rourke da ist, kann ich nicht versprechen. Dienstag und Mittwoch drehen wir die Massenszenen. Jeder, der mitmacht, bekommt von uns Frühstück, Lunch und Spesen, und auf jeden Fall ist dann auch Nash Rourke da.«
»Es sind fast zwei Autostunden von hier bis zur Rennbahn von Huntingdon«, wandte Jackson Wells ein.
»Du bist überstimmt, Pa«, erklärte ihm Lucy. »Wann am Dienstag? Wären Sie einverstanden, wenn wir die Probe morgen auslassen?«
Ich gab ihnen meine Karte und schrieb Ehrengäste. Familie Batwillow auf die Rückseite. »Dienstag früh um neun«, sagte ich. »Laufen Sie einfach den Leuten nach. Die wissen, was zu tun ist. In der Frühstückspause zeigen Sie dann die Karte vor und kommen zu mir.«
»Wau«, sagte Lucy.
Sie hatte Sommersprossen auf der Nase. Spöttische blaue Augen. Man fragte sich, wie reif wohl ihr Klavierspiel war.
Ich sagte zu ihrem Vater: »Können Sie sich vorstellen, warum jemand versuchen sollte, den Film mit Gewalt zu verhindern?«
Er antwortete leichthin: »Wie ich das im Radio gehört habe? Jemand wollte mit dem Messer auf Ihren Star los? Ein Irrer. Soviel ich weiß, hat keiner Angst vor Ihrem Film.«
Ich dachte, jetzt hat er mich wahrscheinlich zum zweiten Mal belogen, oder wenigstens ist es das zweite Mal, daß ich ihn dabei ertappe.
Lucy sagte: »Kann Pas Bruder auch mitkommen?«
Ihr Vater machte eine wegwerfende Geste. »Der würde doch gar nicht wollen.«
»Na, und ob.«
Zu mir sagte sie: »Mein Onkel Ridley wohnt in Newmarket. Er geht dauernd ins Kino, und er wäre von den Socken, wenn er in einem Nash-Rourke-Film mitspielen dürfte.«
»Dann bringen Sie ihn mit«, willigte ich ein. »Wir brauchen soviel Publikum wie möglich.«