Ihre Eltern, sah ich, teilten ihre Begeisterung für Onkel Ridley nicht.
»Hat er denn Zeit?« fragte ich, sondierend, »am Dienstag oder Mittwoch einen Tag in Huntingdon zu verbringen?«
Lucy antwortete arglos: »Onkel Ridley gammelt rum, wie Papa sagt.«
Ihr Vater schüttelte den Kopf über ihre mangelnde Weltklugheit und erklärte: »Mein Bruder Ridley reitet Pferde ein und macht alle möglichen Gelegenheitsjobs im Pferdesport. Er ist nicht gerade der Dynamischste, aber er schlägt sich durch.«
Ich lächelte halb interessiert. »Es wäre mir ein Vergnügen, ihn kennenzulernen.«
Ich schwieg, und wandte mich wieder dem Thema zu, das mir mehr am Herzen lag. »Könnten Sie mir ein Foto von, ehm. Sonia borgen? Nur damit wir die Yvonne im Film ihr nicht zu ähnlich machen.«
»Ich besitze keins«, sagte Jackson Wells prompt.
»Nicht mal. Verzeihen Sie«, sagte ich entschuldigend zu Mrs. Wells, ».nicht mal ein Hochzeitsfoto?«
»Nein«, sagte Jackson Wells. »Die sind verlorengegangen, als wir hierhergezogen sind.«
Seine Augen waren die Unschuld selbst, und zum dritten Mal glaubte ich ihm nicht.
Kapitel 8
Auf der Fahrt nach Newmarket ging ich meinen Zeitplan durch, kam zu dem Ergebnis, daß ich vor meinem Zehnuhrtreff noch eine halbe Stunde erübrigen konnte, und rief Dr. Robbie Gill an, dessen Nummer, dick und schwarz, mir von Dorotheas handgeschriebenem Notruf her deutlich in Erinnerung war.
»Hätten Sie Lust«, fragte ich, »schnell irgendwo mit mir ein Glas zu trinken?«
»Wann?«
Ich hatte es schon ausgerechnet. »Ich sitze jetzt in meinem Wagen. Gegen halb zehn bin ich in Newmarket. In Ordnung? Um zehn muß ich im Bedford Lodge sein.«
»Ist es wichtig?«
»Interessant«, sagte ich. »Es geht um Dorotheas Angreifer.«
»Dann regle ich das mit meiner Frau.«
In seiner Stimme lag ein Lächeln, als wäre das kein Problem. »Ich komme um halb zehn ins Bedford Lodge und warte in der Halle.«
»Großartig.«
»Ich habe gehört, jemand hat Nash Rourke mit einem Messer angegriffen.«
»So gut wie. Es war aber sein Double. Und es ist nichts passiert.«
»Hab ich auch so verstanden. Bis halb zehn dann.«
Er hängte ein, so kurz angebunden wie immer mit seiner Schottenstimme; und rothaarig und terrierartig wartete er in der Hotelhalle, als ich zum Bedford Lodge zurückkam.
»Kommen Sie mit rauf«, sagte ich, ihm die Hand schüttelnd. »Was trinken Sie?«
»Diätcola.«
Ich ließ ihm vom Zimmerservice seine sprudelnde Erfrischung bringen und goß mir Cognac aus einer immer griffbereiten Flasche ein. Dieser Film, dachte ich flüchtig, treibt mich an die Vierzigprozentmarke.
»Also«, ich bot ihm einen Sessel in dem gepflegten Salon an, »heute nachmittag wollte ich Dorothea in Cambridge besuchen, und unser Freund Paul hat mir den Weg versperrt.«
Robbie Gill verzog das Gesicht. »Obwohl sie meine Patientin ist, versperrt er auch mir den Weg soweit wie möglich.«
»Wie kann ich verhindern, daß er sie entführt, sobald sie transportfähig ist? Sie hat ihm und mir gesagt, daß sie nicht in das Altenheim will, das er für sie vorgesehen hat, aber er schert sich nicht drum.«
»Er ist ein Quälgeist.«
»Können Sie Dorothea nicht für transportunfähig erklären?«
Er dachte zweifelnd darüber nach. »Im Moment würde sie niemand verlegen. In ein paar Tagen aber.«
»Egal wie«, sagte ich.
»Wieviel liegt Ihnen daran?«
»Eine ganze Menge.«
»Ich meine. wieviel es Ihnen wert ist.«
Ich sah ihn über mein Cognacglas hinweg an. »Wollen Sie sagen, daß sich mit finanziellen Mitteln da etwas erreichen läßt?«
Er antwortete geradeheraus, wie es seinem schottischen Wesen entsprach. »Ich will sagen, daß ich als ihr Arzt sie mit ihrem Einverständnis in ein Sanatorium meiner Wahl verlegen lassen könnte, wenn die Bezahlung des Klinikaufenthalts gewährleistet wäre.«
»Ruiniert mich das?«
Er nannte eine alarmierend hohe Summe und wartete nüchtern darauf, daß ich sagen würde, es sei mir zuviel.
»Sie haben keine Verpflichtung«, bemerkte er.
»Ich bin auch nicht arm«, erwiderte ich. »Sagen Sie ihr nicht, wer dafür aufkommt.«
Er nickte. »Ich werde sagen, der Staatliche Gesundheitsdienst zahlt. Das läßt sie schon hingehen.«
»Dann machen wir’s so.«
Er trank seine Diätcola aus. »War das alles?«
»Nein«, sagte ich. »Ich zeichne Ihnen noch etwas, und Sie sagen mir, was Sie davon halten.«
Ich nahm einen großen Bogen Schreibpapier, legte ihn auf den Couchtisch und zeichnete ein Bild von dem Messer, das ich auf der Heide gefunden hatte. Ein häßlicher Knauf als Handgriff an zwanzig Zentimetern scharfen Stahls.
Er betrachtete die Zeichnung reglos und still.
»Nun?« fragte ich.
»Ein Schlagring«, sagte er, »der zum Messer geworden ist.«
»Und Dorotheas Verletzungen?« fragte ich.
Er starrte mich an. Ich sagte: »Nicht zwei Angreifer. Nicht zwei Waffen. Nur diese eine, die gleichzeitig ein stumpfer Gegenstand und eine Klinge ist.«
»Du guter Gott.«
»Wer besitzt so ein Ding?« fragte ich ihn.
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Kennen Sie jemand namens Derry?«
Er sah völlig verwirrt aus.
Ich sagte:«Valentine hat mal davon gesprochen, daß er einem gewissen Derry ein Messer gegeben hat.«
Robbie Gill runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kenne keinen Derry.«
Ich seufzte. Zu viele Leute wußten nichts.
Er sagte unvermittelt: »Wie alt sind Sie?«
»Dreißig. Und Sie?«
»Sechsunddreißig.«
Er lächelte schief. »Zu alt, um die Welt zu erobern.«
»Ich auch.«
»Sie scherzen!«
»Steven Spielberg«, sagte ich, »war siebenundzwanzig, als er den Weißen Hai gedreht hat. Ich bin nicht er. Auch kein Visconti, kein Fellini, kein Lucas. Ich bin nur ein Auftrags-Geschichtenerzähler.«
»Und Alexander der Große ist mit dreiunddreißig gestorben.«
»An Diätcola?« fragte ich.
Er lachte. »Glauben die Amerikaner wirklich, daß man selbst schuld ist, wenn man an Altersschwäche stirbt?«
Ich nickte ernst. »Dann hätte man mehr joggen sollen. Oder nicht rauchen oder regelmäßig seinen Cholesterinspiegel prüfen oder aufs Saufen verzichten sollen.«
»Und dann?«
»Dann endet man, indem man jahrelang an Schläuchen hängt.«
Er lachte und stand auf, um zu gehen. »Es ist mir ja peinlich«, sagte er, »aber meine Frau hätte gern ein Autogramm von Nash Rourke.«
»Geht klar«, versprach ich. »Wann können Sie Dorothea frühestens verlegen?«
Er dachte darüber nach. »Gestern abend ist sie überfallen worden. Heute hat sie von der Narkose noch den ganzen Tag geschlafen. Die Verletzung war schwer. sie mußten ein Stück Darm entfernen, bevor sie die Bauchdecke schließen konnten. Wenn alles gutgeht, ist sie morgen wieder ganz wach und kann übermorgen schon kurz aufstehen, aber es dürfte wohl noch eine Weile hingehen, bevor sie reisen kann.«
»Ich würde sie gern besuchen«, sagte ich. »Der verflixte Paul muß doch irgendwann mal schlafen.«
»Ich regle das. Rufen Sie mich morgen abend an.«
Moncrieff, Ziggy und ich brachen am nächsten Morgen um halb fünf nach Nordosten zur Küste von Norfolk auf.
Ed hatte mir auf Anweisung O’Haras einen Fahrer besorgt, einen schweigsamen jungen Mann, der meinen Wagen zügig fuhr, während ich ihn anhand der Karte vom Beifahrersitz aus dirigierte.
Moncrieff und Ziggy schliefen auf dem Rücksitz. Im Kofferraum hatten wir die schwere Kamera, die Moncrieff wie ein Spielzeug auf den Schultern tragen konnte, eine Kühlbox mit Rohmaterial und eine Thermosbox mit Kaffee und Frühstück. Draußen war es kalt, im Wagen einschläfernd warm. Schon bald war ich froh, daß wir den Fahrer hatten.