Ich holte Atem. »Also, wer ist sie?«
Nach einer langen Schweigepause, in der man hoffen durfte, daß er sich einige Realitäten vor Augen hielt, sagte er: »Alison Visborough.«
»Wer?«
»Alison Vis -«
»Jaja«, unterbrach ich. »Ich dachte, sie heißt Audrey.«
»Das ist ihre Mutter.«
Ich schüttelte den Kopf, um Ordnung hineinzubringen, denn mir war, als hätte ich meinen Durchblick am Strand von Happisburgh zurückgelassen.
»Nur damit wir uns richtig verstehen«, sagte ich. »Sie haben Ihren Unmut bei Alison Visborough abgeladen, deren Mutter Audrey Visborough ist, die Witwe des verstorbenen Rupert Visborough, der in Ihrem Buch Cibber heißt. Soweit richtig?«
Er nickte unglücklich.
»Und«, sagte ich, »als Sie Rupert Visboroughs Nachruf lasen und auf die Idee zu Ihrem Buch kamen, sind Sie nicht zu Jackson Wells, dem Mann der Erhängten, gegangen, aber Sie haben die Schwester der Toten, Audrey Vis-borough, aufgesucht.«
»Nun. mag sein.«
»Ja oder nein?«
»Ja.«
»Und sie hat Ihnen erzählt, ihre Schwester habe von Liebhabern geträumt?»
»Ehm.«
»Howard!« »Na, hören Sie«, sagte er mit wiederaufkommender Gereiztheit, »ich brauche doch nicht diese ganzen Fragen zu beantworten.«
»Was ist denn dabei?«
»Es würde ihnen nicht recht sein.«
»Audrey und Alison, meinen Sie?«
Er nickte. »Und Roddy.«
»Wer ist Roddy?«
»Alisons Bruder.«
Gib mir Kraft, dachte ich. Ich sagte: »Seh ich das richtig? Rupert Visborough hat Audrey geheiratet; aus der Ehe stammen eine Tochter, Alison, und ein Sohn, Roddy?«
»Ich weiß nicht, was daran so kompliziert sein soll.«
»Aber Sie haben die Kinder nicht in Ihrem Buch erwähnt.«
»Das sind doch keine Kinder mehr«, wandte Howard ein. »Sie sind so alt wie ich.«
Howard war fünfundvierzig.
»Sie haben sich also bei Alison ausgekotzt«, sagte ich. »Warum hat sie’s dann im Drumbeat veröffentlicht? Und auf welchem Weg?«
Er stand abrupt auf. »Ich wußte nicht, daß sie das vorhatte. Ich habe sie nicht darum gebeten. Wenn Sie’s genau wissen wollen, ich war geschockt, als ich die Zeitung las. Ich wollte nicht, daß das, was ich ihr gesagt habe, so an die Öffentlichkeit kommt.«
»Haben Sie seither noch mal mit ihr gesprochen?«
Er sagte, als müsse er sie verteidigen: »Sie dachte, sie würde mir helfen.«
»So ein Scheiß«, sagte ich.
Er war beleidigt und stakste in Richtung Außenwelt davon.
Einigermaßen verstimmt ging ich nach oben und sah meinen Anrufbeantworter blinken. O’Hara, so schien es, wollte mich gern in seiner Suite sehen.
Ich ging durch die mit Teppichen belegten Gänge. »Wußten Sie«, fragte er, als er auf mein Klopfen die Tür öffnete, »daß Howard wieder da ist?«
Wir sprachen über Howard. O’Hara sparte nicht mit Schimpfwörtern.
»Howard hat mir erzählt«, sagte ich, O’Haras Redeschwall halbwegs erfolgreich eindämmend, »daß er einer befreundeten Dame sein Leid geklagt hat, die prompt damit zum Drumbeat gegangen ist, aber ohne sein Wissen.«
»Was?«
Ich erzählte O’Hara von den Visboroughs.
Er wiederholte ungläubig: »Audrey, Alison und Roddy?«
»Und Gott weiß wer noch.«
»Howard«, verkündete er mit schwerer Stimme, »ist übergeschnappt.«
»Er ist naiv. Deshalb muß er noch kein schlechter Schriftsteller sein.«
O’Hara stimmte düster zu. »Traumliebhaber sind auch naiv.«
Er überlegte. »Ich werde mit den Bossen noch mal über seinen Vertragsbruch reden müssen. Die fürchterliche Alison kennen Sie wohl nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es muß ihr jemand ein Licht aufstecken.«
»Mhm«, meinte ich. »Sie?«
O’Hara drückte sich. »Wann hätten Sie denn selber Zeit?« »Bloß nicht«, wehrte ich ab. »Was sie von mir hält, wissen wir ja.«
»Trotzdem«, lächelte O’Hara, »wenn Sie wollen, leiern Sie mit Ihrem Charme die Vögel aus den Bäumen.«
»Ich weiß nicht, wo sie wohnt.«
»Das finde ich raus«, versprach er, »und Sie machen dann die Schadensbegrenzung.«
Er schien mit einemmal glücklicher. Eine Klage gegen Howard hätte sich endlos hingezogen und hätte durchaus die Büchereikunden entfremden können, die sein Name doch ins Kino bringen sollte. Greife nie jemanden an, hatte der alte Valentine einmal geschrieben, ohne vorher zu berechnen, was ein Sieg dich kostet.
O’Hara fragte, ob ich Jackson Wells aufgestöbert hätte, schien aber enttäuscht, als ich ihm sagte, daß Wells mit seiner Familie in angenehmen, ungetrübten Verhältnissen lebte.
»Glauben Sie, er hat seine Frau umgebracht?« fragte er neugierig.
»Das konnte nie bewiesen werden.«
»Aber glauben Sie’s?«
Ich zögerte. »Ich weiß es nicht.«
O’Hara tat den Gedanken ab, und da er die Muster von tags zuvor sehen wollte, fuhren wir zum Stall hinüber. Dort in dem weitläufigen Haus war ein kleines Zimmer als Vorführraum hergerichtet, mit einer Leinwand und sechs Stühlen, aber ohne Luxus. Die Fenster waren gegen Schnüffler verdunkelt, und die Rollen schon kopierten Films, die dort lagerten, waren auf jede erdenkliche Art gegen Diebstahl und Feuer geschützt. Da hatten die Bosse keinen Aufwand gescheut: Niemand konnte es sich leisten, noch einmal ganz von vorn zu drehen.
An diesem Morgen bediente ich selbst den Projektor. O’Hara saß gleichmütig da, während die Pferde den Trainingshang hinaufgaloppierten und über den Kamm ins Sonnenlicht kamen. Ich sah, daß ich mit dem dritten Anlauf recht gehabt hatte, und mein Trompetentusch nahm sich großartig aus. Danach hatte Moncrieff die Kameras abgeschaltet. Nur die Aufnahme, die ich selbst gemacht hatte, war noch auf der Rolle - der Pferdezug am Horizont, schwarz gegen das Sonnenlicht. Ausgesprochenes Pech, dachte ich, daß wir bei all dem Rohmaterial, das wir besaßen, nicht einen Meter Film mit dem Reiter hatten, der mit seinem furchterregenden Messer auf Ivan losgegangen war.
O’Hara fluchte darüber, doch hinterher ist man eben häufig klüger.
Ich überließ es dem eigentlichen Vorführer, die Rolle zurückzuspulen, und legte das Material ein, das wir danach gedreht hatten, die >erste Begegnung< von Nash und Silva.
Wie immer bei Mustern war die Tonqualität mangelhaft; die endgültige Tonspur wurde erst später, nach den Dreharbeiten, mit der Bildspur zusammengebracht. Muster mit ihren zwei, drei oder mehr kopierten Takes von einer einzelnen Szene konnten ohnehin nur von Fachleuten beurteilt werden, ähnlich wie Weinkenner einen eventuellen Spitzenjahrgang aus dem scharfen, frisch vergorenen Reb-saft herausschmecken. O’Hara schnalzte sogar entsprechend mit der Zunge, als er zuschaute, wie Silva ruckartig ihr Pferd anhielt und beinah Nash-den-Trainer umrannte, der bei seinen Tieren stand; wie sie dann absaß, sich die Kappe herunterriß und rollengemäß zunächst verärgert, aber mit schnell erwachendem sexuellen Interesse ihren Text sprach; wie der herrliche Mund sich zu einem Lächeln verzog, das ihren Preis ab sofort vervierfachen würde.
»Braves Mädchen«, murmelte O’Hara erfreut.
Nash, barhäuptig und in Reitkleidung, sagte seinen Text in Platin, beinah unbezahlbar. Howard, von uns gedrängt, diese Szene nachzureichen, die im Buch natürlich nicht vorkam, hatte ausgezeichnete Dialoge abgeliefert, die seinen Spitzenplatz im Vorspann des Films voll und ganz rechtfertigten. Moncrieff hatte die Gesichter kunstvoll ausgeleuchtet und die Pferde wie vereinbart etwas unscharf ins Bild gesetzt, um die einzelnen menschlichen Gestalten in Nahaufnahme klar hervorzuheben. Irgendwie bildete die unbekümmerte Gleichgültigkeit der Pferde einen beredten Kontrast zu der knisternden Erregung, die sich in ihrer Nähe entwickelte. Ein kurzer, flüchtiger Eindruck, aber ein Gewinn an Atmosphäre. Alles in allem gar nicht schlecht.