»Sie haben keine Reithose und keine Stiefel«, sagte Ed mit einem verdutzten Blick auf meine braunen Schuhe und die normale Hose.
»Das ist dem Pferd egal«, sagte ich. Eine gewisse Lok-kerheit war unter diesen Umständen nicht zu verachten.
Der Pfleger des Pferdes warf mich rauf, wie er es schon oft getan hatte. Ich zog den Gurt an, schnallte die Bügel länger und zurrte meine Kappe fest.
Die beiden Jockeys, die mich beim Wort nahmen, saßen auf und waren startbereit. Ich lachte in den Kreis der anderen Gesichter hinein, die mit einemmal besserer Laune waren.
»Was seid ihr doch für eine Saubande«, sagte ich und bekam mehr als ein Grinsen dafür.
Da die Tore nicht verschlossen waren, gingen wir ungehindert mit den Pferden zur Bahn. Es war ein Rechtskurs von anderthalb Meilen, mit. neun verschiedenen Hindernissen dazwischen. Elf Jahre hatte ich kein Rennen mehr geritten. Ich war verrückt. Ein tolles Gefühl.
Scheußliche lange Wörter wie Pflichtvergessenheit drangen Würmern gleich in die vernünftigeren Zonen meines Denkens vor. Immerhin trug ich die Verantwortung für einen Multimillionendollarfilm. Bei allem Übermut wußte ich, daß das Souffle, an dem ich bastelte, in sich zusammenfallen würde, wenn jemand den Geldhahn abdrehte.
Trotzdem kam es mir so vor, als wäre ich vor langer Zeit nach einer viel zu kurzen Jugend alt geworden. Ungefähr drei Minuten lang wollte ich noch mal Teenager sein.
Ed, der Wagen und der Arzt folgten uns auf die Bahn.
Einer meiner Gegner fragte mich: »Wie schwer sind Sie?«
»Schwer genug, daß es mich entschuldigt, wenn ich verliere.«
»Von wegen«, sagte er, und damit richtete er sein Pferd nach vorn aus und stieß ihm die Fersen in die Seiten.
Ich setzte ihm sofort nach. Es hieß jetzt oder nie, und ich spürte, wie die alte kontrollierte Verwegenheit Geist und Körper durchflutete, als hätte ich nie etwas anderes gekannt.
Ihrer Farben wegen sah ich den Mann vor mir als Blau, den Mann hinter mir als Rot an. Wir hatten die leuchtenden Hemden eigens für den Film anfertigen lassen, bedacht auf optische Wirkung und Unterscheidbarkeit, und die Kostümleute hatten gute Arbeit geleistet.
Blau und Rot waren jünger als ich und hatten die Jok-keylaufbahn noch nicht eingeschlagen, als ich von ihr abgekommen war. Ich merkte gleich, daß sie nicht geneigt waren, irgendwelche Zugeständnisse zu machen, und sonst wäre das ganze Unternehmen ja auch zwecklos gewesen. Ich grub einfach in meinem Gedächtnis nach der Technik, die mir früher im Blut gelegen hatte, und schätzte den Gang meines Pferdes vor dem ersten Sprung mit einer Routine ab, die ich längst vergessen zu haben glaubte.
Alles war Tempo und Stille. Keine Frotzelei, kein Fluchen von den anderen. Nur der Huf schlag und das Wischen durchs dunkle Reisig der Hindernisse. Nur die grimmige Entschlossenheit und die alte Begeisterung.
Mein Gott, dachte ich mitten im Flug, warum hab ich das bloß aufgegeben? Aber ich wußte, warum. Mit neunzehn war ich zu groß gewesen und zu schwer geworden und hatte das »Gewichtmachen« durch Hungern und Schwitzen nicht mehr vertragen.
Eine halbe Meile und zwei Sprünge später spürte ich die ersten Anzeichen mangelnder Fitneß in meinen Muskeln und dachte daran, daß Blau und Rot seit mehreren Monaten in Wettkampfform waren. Das Tempo, das ihnen leichtfiel, kostete mich meine ganze Kraft. Wir waren durch den Bogen gekommen und lagen eingangs der langen Gegengeraden alle drei noch gleichauf, bevor ich mir ernsthaft überlegte, daß ich ein Narr, zumindest aber tolldreist gewesen war, diesen Zirkus in Gang zu setzen, und bei den nächsten vier dicht aufeinanderfolgenden Sprüngen konzentrierte ich mich hauptsächlich darauf, mein Gewicht möglichst weit vorn zu halten.
Aerodynamisch am günstigsten fürs Tempo ist es, wenn der Schwerpunkt des Reiters über der Vorhand des Pferdes liegt, aber bei einem Rumpier kann der Jockey in dieser Haltung sehr leicht nach vorn katapultiert werden. Die Alternative besteht darin, daß man das Tempo vor dem Sprung reduziert, sich zurücksetzt, die Zügel durch die Finger gleiten läßt und vielleicht noch einen Arm hochwirft, um vor der Landung die Balance zu halten. Am gewohnheitsmäßig erhobenen Arm, dem sogenannten »Taxiruf«, erkennt man den Amateur. Ging der Arm einmal hoch, war es nicht zu ändern, aber fünf oder sechs Armschwünge hätten mir Mitleid eingetragen, und darauf war ich nun wirklich nicht aus. Ich würde in Huntingdon mit vorgelagertem Gewicht über die Sprünge gehen, und wenn es mich umbrachte.
Was durchaus möglich war.
Mit diesem sarkastischen Gedanken, mit strapazierten Muskeln und pumpender Lunge erreichte ich den langen Einlaufbogen: noch zwei Sprünge, dann die Gerade und das Ziel.
Als erfahrene Jockeys, die sie waren, hatten Rot und Blau bis zum Schlußbogen gewartet, bevor sie voll auf die Tube drückten. Entschlossen, mich nicht schmählich abhängen zu lassen, beschleunigte ich mit ihnen, und mein Pferd reagierte wie die meisten Vollblüter mit dem angeborenen Drang, seinen Kopf in Front zu bringen.
Ich wußte nicht, wie es bei den anderen war, aber ich flog über die letzten beiden Hindernisse, als ginge es um den Sieg im Grand National; es genügte dann trotzdem nicht. Wir endeten ausgequetscht in der Reihenfolge Rot, Grün und Blau, mit einer halben Länge zwischen dem Ersten und dem Zweiten und einer halben zwischen dem Zweiten und dem Dritten.
Wir hielten an und trabten zum Tor zurück. Ich konnte mich kaum noch oben halten. Ich atmete in tiefen Zügen durch die Nase, hatte ich doch schon so manchem Schauspieler gesagt, daß es das sicherste Anzeichen von Erschöpfung war, wenn man mit offenem Mund nach Luft schnappte.
Blau und Rot vorneweg, stießen wir wieder zu den anderen Jockeys. Es wurde nicht viel gesprochen. Wir saßen ab und übergaben die Zügel den Pflegern. Ich spürte meine Finger zittern, als ich die Kappe losband, und hoffte daß die Jockeys es nicht sahen. Ich nahm die Kappe ab, gab sie dem Mann wieder, der sie mir geborgt hatte, und wischte mit dem Daumen den Schweiß aus meiner Stirn. Immer noch war nur halblautes Gemurmel zu hören. Ich knöpfte den gestreiften Dreß auf, zwang meine Hand zur Ruhe und fummelte dennoch zu lange mit der Halsbinde herum. Mein Zwerchfell hatte sich noch nicht beruhigt, als ich Hemd und Binde zurückgab und mir meine eigenen Sachen von jemand geben ließ, der sie vom Gras aufgehoben hatte. Zu schlapp, um sie anzuziehen, hielt ich sie einfach über dem Arm.
Da ich den Eindruck gewann, daß wir alle eher verlegen waren als sonst etwas, bemühte ich mich um einen leichten Ton.
»Okay!« sagte ich. »Morgen also? Treten Sie an?«
Blau sagte: »Ja«, und die anderen nickten.
»Prima. Bis dann.«
Ich brachte ein echtes, wenn auch nur matt strahlendes Lächeln zustande und wandte mich ab, um zu Moncrieff, dem krummen Hund, hinüberzugehen, der so tat, als hätte er nicht die ganze Zeit eine Videokamera auf der Schulter gehabt.
Eine Stimme hinter mir rief: »Mr. Lyon.«
Ich blieb stehen und drehte mich um. Mr. Lyon, hört, hört. Eine Überraschung.
Der mit den grünweißen Streifen sagte: »Sie haben uns Ihren Standpunkt klargemacht.«
Ich steigerte mein Lächeln, winkte mit der Hand und stapfte übers Gras zu Moncrieff.
»Scheiße«, sagte er.
»Ganz und gar nicht. Jetzt kriegen wir morgen vielleicht ein klasse Rennen. Die möchten doch nicht hinter einem schwachbrüstigen Amateur zurückstehen.«
»Ziehen Sie Ihr Hemd an, Sie holen sich ja den Tod.«
Aber das Genick hatte ich mir nicht gebrochen, dachte ich und fühlte mich erhitzt, erschöpft und überglücklich.
Ed gab mir mein Mobiltelefon zurück und sagte, während er um die Bahn gefahren sei, habe O’Hara angerufen und wissen wollen, wo ich steckte.
»Was haben Sie ihm gesagt?« fragte ich.