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Die Felsen des Steinbruchs ragten vor ihm auf. Er wusste nicht, was er hier eigentlich tun sollte. Vielleicht sein Sweatshirt ausziehen, bis die Schmerzen unerträglich wurden und er das Bewusstsein verlor.

Er lief die Einfahrt hinauf und blieb abrupt stehen. Sein Onkel Ross stand da gegen die Motorhaube seines verbeulten Autos gelehnt, die Arme verschränkt. »Wie hast du mich gefunden?«

»Gefunden? Ich war zuerst hier.« Ross sah, dass Ethans Hände und sein Gesicht von der Sonne verbrannt waren, sagte aber nichts. Er reichte Ethan nur eines von seinen eigenen Sweatshirts, dessen Ärmel ihm bis über die Hände fielen. Dann blinzelte er in den Himmel. »Ich hab mir gedacht, ein Junge, der mit der Sonne noch eine Rechnung offen hat, würde versuchen, ihr möglichst nah zu kommen. Und das hier ist die höchste Stelle in der Stadt.« Er sah Ethan an. »Deine Mutter ist verrückt vor Angst.«

»Wo ist sie?«

»Zu Hause. Für den Fall, dass du dort zuerst auftauchst.« Er öffnete die Beifahrertür. »Können wir diese Unterhaltung im Haus weiterführen?«

Nach einem Moment nickte Ethan. Er stieg ins Auto, nahm seine Baseballmütze ab und rieb sich den Kopf. »Stimmt das, dass du versucht hast, dich umzubringen?«

»Ja.«

Ethan spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Sein Onkel war einer der wenigen Männer, zu denen Ethan überhaupt Kontakt hatte, und er war ganz sicher der Coolste von allen. Er hatte total irre Sachen gemacht, Fallschirmspringen und Eisklettern. Ethan wollte so sein wie er, falls er das Glück hatte, je so alt zu werden. Aber er konnte einfach nicht begreifen, wieso der Mann, den er auf der Welt am meisten bewunderte, nicht bloß die Gefahr suchte, sondern darin umkommen wollte. »Warum?«

»Um auf die andere Seite zu kommen«, erklärte sein Onkel.

»Gott sei Dank«, schrie Shelby. Sie rannte zum Auto und zerrte Ethan hinaus. Shelby hielt ihren Sohn fest, als wäre er eine Verlängerung ihres eigenen Körpers.

Ross lehnte sich gegen die Motorhaube und dankte Gott, dass er Ethan am richtigen Ort gesucht hatte. Er wollte zur Haustür gehen und merkte erst jetzt, dass ein Fremder neben seiner Schwester auf der Veranda stand. »Das ist Rod van Vleet«, sagte sie in einem Tonfall, der Ross verriet, dass ihr Streit noch längst nicht beendet war. »Er wollte dich sprechen.«

Ross warf seiner Schwester den düstersten Blick zu, den er unter den gegebenen Umständen zustande brachte. Der Mann war kleiner als Ross, und sein Kopf mit dem schütteren Haar hatte die unvorteilhafte Form einer Erdnuss. Er trug einen eleganten Anzug, gestärktes Hemd, Krawatte. »Mr. Wakeman«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Wie ich höre, jagen Sie Geister.«

DREI

Endlich einmal gefiel es ihm, dass alle ihn anstarrten.

Ethan trug die Videokamera, obwohl sie schwer war, aber er würde seinem Onkel gegenüber ganz bestimmt nicht jammern. Außerdem schleppte Ross alles andere – von den Schlafsäcken bis zum Proviant (eine Überwachung, so hatte sein Onkel gemeint, war nun mal eine Überwachung, auch wenn die Leute, die man erwischen wollte, schon tot waren). Sie gingen an den Trommlern und dem Bulldozer und den Bauarbeitern vorbei, und Ethan merkte, dass so ziemlich jeder bei dem, was er gerade tat, innehielt. Ein alter Indianer starrte Ethan besonders eindringlich an, aber nicht, weil er seltsam aussah – sondern weil ihn der Mann und der Junge interessierten, die da so selbstverständlich über das Grundstück marschierten.

Ethan blieb einen Moment stehen und beobachtete einen Studenten beim Sandsieben. Der junge Mann trug nur eine kurze Hose, und seine Schultern und der Rücken waren nussbraun. Ethan schaute an sich selbst hinunter, auf die langen Ärmel und die dicke Hose. Er sog die Luft durch das Gitter der Schutzmaske ein, die er tragen musste, wenn er bei Tageslicht das Haus verließ.

»He, komm schon«, rief Ross über die Schulter, und Ethan hastete ihm nach.

Der Bauunternehmer, Mr. van Vleet, kam auf sie zu. Er trug schicke Lederschuhe und rutschte immer wieder auf dem Eis aus, das die Erde wie Zuckerguss überzog. »Mr. Wakeman«, sagte er leise zur Begrüßung. »Wir verstehen uns doch hoffentlich, dass Sie die Sache … mit äußerster Diskretion behandeln.«

»Und wir verstehen uns hoffentlich auch, dass ich meine Arbeit mache, wie ich es für richtig halte«, entgegnete Ross und kehrte dem Mann den Rücken zu. Er stieg die Stufen zu dem alten Haus hinauf. Eine brach in der Mitte durch, als er den Fuß daraufstellte.

Das Haus mit den schwarzen Fensterläden, die schief in den Angeln hingen, sah aus, als hätte es geweint. Ethan trat zurück und reckte den Hals, um bis ganz nach oben zu schauen. Es war irgendwann einmal weiß gewesen. Die meisten Fenster waren längst zerbrochen. Efeu überwucherte den Türrahmen. In der Diele rieselte Putz von der Decke, und die Bodenbretter waren dick mit weißem Staub bedeckt. Die Wände waren schmierig und voller Kritzeleien: SARI BLÄST DIR EINEN. Unter der Treppe waren die Reste eines Lagerfeuers und mindestens dreißig leere Bierflaschen.

Ethan blickte von dem zerbrochenen Geländer zu der düsteren Öffnung eines Nebenzimmers und dann zur Decke. Okay, es war gruselig, dachte er. Na und? Er war schließlich mutiger als die anderen Kinder, die er kannte … obwohl er, zugegeben, nicht viele kannte.

Das redete Ethan sich zumindest ein, bis ihn eine Berührung im Nacken heftig zusammenfahren ließ.

Kerrigan Klieg war der Reporter bei der New York Times, der regelmäßig zu Halloween den obligatorischen Artikel über Vampire verfasste und der die Eltern des ersten New Yorker Millenium-Babys interviewte. Er interessierte sich weder für Wirtschaft noch für große Politik. Zwar rissen ihn die Menschen, über die er schrieb, auch nicht immer vom Hocker, aber ihm gefiel an seiner Arbeit, dass er bei den Recherchen viel von Land und Leuten mitbekam. Er rief sich gern in Erinnerung, dass es außerhalb von Manhattan eine ganze Welt gab, in der die Menschen sich auf der Straße noch in die Augen sahen.

Und was sich ihm hier bot, war der Stoff, von dem er nur träumen konnte: ein hundertjähriger Indianer, eine verstörte Provinzstadt, ein Baulöwe und Gerüchte von einem bösen Geist.

Kerrigan ging neben Az Thompson her, dem Burschen, der ihn angerufen hatte, und fragte sich, wie der Alte es wohl geschafft hatte, so alt zu werden. »Seit Urzeiten ist uns unser Land weggenommen worden«, sagte Thompson. »Aber dass das auch nach unserem Tod noch so weitergehen soll, ist einfach deprimierend.«

Kerrigan stieg über einen Hund hinweg, der auf einem alten Schuh herumkaute. »Soweit ich weiß, wohnt der Besitzer des Hauses, Spencer Pike, schon eine ganze Weile nicht mehr hier.«

»Seit zwanzig Jahren nicht mehr.«

»Glauben Sie, er wusste, dass das Land hier angeblich ein Indianerfriedhof war?«

Der alte Mann blieb abrupt stehen. »Ich glaube, Spencer Pike weiß viel mehr, als er zugibt.«

Kerrigan öffnete den Mund, um noch eine Frage zu stellen, als er einen Mann und einen Jungen ins Haus gehen sah. »Wer sind die beiden?«

»Man munkelt, van Vleet hätte jemanden engagiert«, sagte Thompson. »Um sicherzugehen, dass es keine Geister gibt.« Er wandte sich dem Reporter zu. »Was meinen Sie dazu?«

»Dass das eine prima Story abgibt«, antwortete Kerrigan vorsichtig.

»Mr. Klieg, haben Sie sich schon mal die Schuhe angezogen, und die waren voller Schnee, mitten im August? Oder haben Sie gesehen, wie sich über Nacht Kürbisblüten aus einem Abfluss hochranken?«