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»Äh, nein, ehrlich gesagt.«

Thompson nickte. »Dann sind Sie hier genau richtig«, sagte er.

Als Ross Ethan im Nacken berührte, machte der Junge vor Schreck einen Satz. »Alles in Ordnung?«, fragte Ross.

Ethan zitterten die Knie. »Klar. Ehrlich, alles cool.«

»Ich kann dich auch nach Hause bringen, wenn du willst. Kein Problem.« Ross blickte Ethan ernst an.

Statt einer Antwort legte Ethan die Hand auf das kaputte Treppengeländer und stieg nach oben.

Mit einem Seufzer folgte Ross ihm. Für Ethan mochte die Sache ja spannend sein, aber er könnte gut und gern darauf verzichten. Als van Vleet ihn gebeten hatte, die paranormalen Phänomene auf dem Pike-Grundstück zu untersuchen, hatte er rundheraus abgelehnt. Und dann hatte er gesehen, wie seine Schwester ihn beobachtete, wartend.

Er hatte vier Bedingungen gestellt. Erstens, Ross leitete die Untersuchung und würde sich von niemandem etwas sagen lassen müssen, nicht einmal vom Chef der gesamten Redhook-Gruppe. Zweitens, die Einzigen, die sich während der Untersuchung im Haus und in der Nähe aufhalten durften, würden Ross und sein Assistent sein – Ethan, was den Jungen gleichermaßen erstaunte und begeisterte. Drittens, Ross wollte keinerlei Informationen darüber, was sich in der Vergangenheit in dem Haus und auf dem Grundstück zugetragen hatte, bis er selbst darum bat – das könnte sonst seine Eindrücke verfälschen. Viertens, er würde kein Geld nehmen – anders als die Warburtons, die jedem x-beliebigen Kunden einen Geist lieferten, wenn nur das Geld stimmte.

Im Gegenzug versprach Ross, die Untersuchung diskret durchzuführen, ganz wie es die Geschäftsleitung von Redhook wünschte. Denn es sollte auf keinen Fall durchsickern, dass sie tatsächlich die Existenz übernatürlicher Phänomene in Betracht zog.

Also war er jetzt hier und bereitete eine nächtliche Überwachung vor, ganz wie in alten Zeiten. »Leg die Kamera hin«, wies Ross Ethan an. »Wir gehen jetzt erst mal durchs Haus und sehen, ob wir was empfangen.«

»Was empfangen

Ross musste einen Moment nachdenken. Wie erklärte man einem Kind das Gefühl, sich selbst so zu öffnen, dass jeder Geruch und jedes Bild eine unauslöschliche Spur hinterließen? Wie erklärte man die Empfindung, wenn die Luft so schwer wie eine Decke wurde, die sich einem über den Brustkorb legte? »Schließ die Augen«, sagte Ross, »und sag mir, was du siehst.«

»Aber …«

»Mach schon.«

Zuerst schwieg Ethan. »Licht … das aus den Ecken kommt.«

»Okay.« Ross drehte ihn sanft im Kreis und hielt ihn dann an den Schultern fest. »Und jetzt … ohne zu schummeln … wo ist die Treppe?«

»Hinter mir«, sagte Ethan, und das Staunen über seinen eigenen sechsten Sinn vibrierte in seiner Stimme.

»Woher weißt du das?«

»Einfach weil … na ja, es fühlt sich an wie ein Loch in der Luft.«

»Gut gemacht, Wunderknabe. Das war Lektion Nummer eins.«

»Und was ist Lektion Nummer zwei?«

»Keine Fragen stellen.«

Ross sah sich um. Sämtliche Möbel oder sonstigen Einrichtungsgegenstände, die es in diesem Haus gegeben hatte, waren längst verschwunden, und nur an den hellen Flecken an der Wand und den Abnutzungsspuren auf dem verdreckten Boden war zu erkennen, wo sie sich einst befunden hatten. Im ersten Stock waren drei kleine Schlafzimmer und ein Bad. Eine Treppe führte weiter nach oben zu einer winzigen Dienstbotenstube.

»Onkel Ross? Wann kommen sie?«

»Falls es hier Geister gibt, sind sie längst da.« Ross spähte in das Badezimmer. Er sah eine Wanne mit Löwentatzen, die in der Mitte einen Sprung hatte, und ein altes Klosett mit Spülkasten darüber. »Wahrscheinlich beobachten sie uns. Und wenn wir ihnen gefallen, werden sie versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.«

Ethan drehte den Wasserhahn auf, und eine braune Flüssigkeit tropfte heraus. »Macht es ihnen was aus, dass wir hier sind?«

»Kann sein.« Ross tastete das Fenster ab. »Manche Geister wollen unbedingt zur Kenntnis genommen werden. Aber manche Geister wissen nicht mal, dass sie tot sind. Die sehen uns und fragen sich, wieso wir in ihrem Haus sind. Das heißt«, sagte er laut und herausfordernd, »falls es überhaupt welche gibt.«

Kommt und holt mich, dachte Ross.

Er ging wieder die Treppe hinunter, inspizierte die Küche, die Vorratskammer, den Keller und das Wohnzimmer. In einem kleinen Arbeitszimmer mit Flügeltür stand noch ein alter Sessel, in dessen zerfetztem Polster sich eine Mäusefamilie eingenistet hatte. Der Boden war mit alten Zeitungen übersät, und an den Wänden klebte etwas, das aussah wie Schmierfett.

»Onkel Ross? Ist Aimee ein Geist?«

Ross spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. »Das weiß ich nicht, Ethan.« Die Erinnerung an Aimee stieg in ihm auf wie eine Meerjungfrau aus dem Ozean. »Sterben … weißt du, ich stelle mir vor, das ist wie in einen Bus einsteigen. Viele sitzen drin bis zur Endstation. Aber manche steigen schon vorher aus.«

»Vielleicht ist sie ausgestiegen, um dich zu sehen.«

»Vielleicht«, sagte Ross.

»Was ist, wenn  …«

»Ethan«, unterbrach Ross ihn. »Psst.« Er drehte sich im Kreis, versuchte, den flüchtigen Gedanken festzuhalten, der ihm gerade gekommen war. Er blickte über das Geländer nach unten auf den Unrat am Fuße der Treppe, auf die huschenden Mäuse. In der Ecke entdeckte er ein Hornissennest. Überall auf dem Flur sah er Spinnweben und Staub, Moos und Schimmel – die Spuren von Verwahrlosung und Feuchtigkeit. Ross ging in das Schlafzimmer, das nach hinten lag. Dort waren die Holzdielen schwarz von Schmutz und mit zerbrochenem Geschirr und leeren Süßigkeitenverpackungen übersät. Aber die Decke war so sauber, als wäre sie eben erst gestrichen worden. Kein einziges Spinnennetz, kein Schimmel, keine Insekten. Anders als im übrigen Haus hatten sich in diesem Zimmer keinerlei Tiere eingenistet.

Ross drehte sich zu seinem Neffen um. »Hier«, sagte er, »bauen wir unsere Geräte auf.«

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Lucys blutjunge Betreuerin im Freizeitlager. Sie hastete vor Meredith her über einen Pfad zum Geräteschuppen, in den sich Lucy vor fünfundvierzig Minuten eingeschlossen hatte. »Sie hat mit den anderen Völkerball gespielt, und auf einmal ist sie schreiend weggerannt.«

Meredith stolperte ständig wegen ihrer hohen Absätze. Hatte sie Lucys Medikamente dabei? Wenn sie sich vor lauter Angst allein im Dunkeln versteckte, dann hatte sie wahrscheinlich einen Asthmaanfall. »Wir haben sofort bei Ihnen zu Hause angerufen«, sagte die Betreuerin. »Ihre Mutter hat gesagt, dass sie nicht Auto fahren kann.«

»Meine Großmutter«, verbesserte Meredith sie automatisch. Ruby war mit ihren fast achtzig Jahren zwar geistig noch hellwach, fühlte sich aber hinter dem Steuer nicht mehr wohl. Sie hatte Meredith im Labor angerufen. Ein Notfall, hatte sie gesagt.

Sie erreichten die kleine Holzhütte am Waldrand. »Lucy?« Meredith rüttelte am Türgriff. »Lucy, du machst jetzt sofort die Tür auf!« Sie schlug zweimal mit der Faust gegen die Tür. Beim dritten Schlag schwang sie auf, und Meredith trat gebückt ein.

Die stickige Hitze sprang sie förmlich an. Lucy kauerte hinter einem Netz voller Fußbälle. Sie hielt eine lila Seidenschleppe an die Brust gepresst, Teil eines Kostüms für eine längst vergessene Musicalaufführung. Sie weinte.

»Hier«, sagte Meredith und reichte ihr das Albuterol, das Lucy gehorsam in den Mund steckte und inhalierte. Dann nahm Meredith ihre Tochter in den Arm. »Wieso heißt das Spiel eigentlich Völkerball?«, sinnierte sie, als gäbe es nichts Normaleres, als hier und jetzt diese Frage zu stellen.

Lucys Brust hob und senkte sich noch immer wie ein Blasebalg. »Es war nicht das Spiel«, gestand sie. »Ich hab was gesehen?«