»Was denn?«
»Da hing was. Im Baum. An einem Seil.«
»Eine Schaukel?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Frau.«
Meredith zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Zeigst du mir, wo?«
Sie liefen nach draußen, vorbei an Lucys Betreuerin, vorbei an den kleinen Pavillons, in denen die Bastelstunden stattfanden, über eine schmale Brücke, die zu den Sportanlagen führte. Eine Gruppe von Kindern, allesamt älter als Lucy, spielte dort Völkerball.
»Wo?«, fragte Meredith. Lucy deutete nach links auf einen Baum. Meredith nahm die Hand ihrer Tochter und blickte nach oben. »Kein Seil«, sagte sie leise. »Nichts.«
»Es war aber da.« Lucys Stimme klang rau vor Hilflosigkeit. »Ehrlich.«
»Lucy. Ich glaube dir, dass du etwas gesehen hast. Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung. Vielleicht hat dich die Sonne geblendet.«
»Vielleicht«, wiederholte Lucy leise.
»Vielleicht war es ein Ast, der sich im Wind bewegt hat.«
Lucy zuckte die Achseln.
Plötzlich streifte Meredith ihre Pumps ab und gab Lucy ihren Laborkittel. »Halt mal«, sagte sie und begann, den Baum hochzuklettern. Sie kam bis zu einem ausladenden Ast.
Mittlerweile schauten alle Kinder zu, und selbst Lucy musste lächeln. »Nichts«, stellte Meredith fest und stieg wieder hinunter.
Ihre Nylonstrümfe hatten Löcher, und ihre Frisur war ruiniert. Lucy nahm das Gesicht ihrer Mutter in beide Hände. »Vielleicht hat mich ja die Sonne geblendet«, flüsterte sie.
Meredith zog ihre Tochter fest an sich. »Tapferes Mädchen«, sagte sie und wusste genau, dass sie sich beide selbst nicht glaubten.
Von den Warburtons hatte Ross gelernt, dass die Geisterstunde zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens war. Um halb elf war Ross mit den Vorbereitungen im Schlafzimmer des verlassenen Hauses fertig.
»Wo bleiben denn die ganzen coolen Geräte?«, fragte Ethan enttäuscht. »Du weißt schon, die aus dem Fernsehen.« Er beäugte die Videokamera mit unverhohlener Skepsis.
»Curtis sagt immer, beim ersten Mal sollte man nicht zu viel technischen Kram aufbauen«, erklärte Ross. »Am Ende ist man dann zu sehr mit den Geräten beschäftigt. Außerdem stören Geister das Magnetfeld und lösen oft Kurzschlüsse aus.«
»Trotzdem«, quengelte Ethan. »Ohne vernünftige Ausrüstung sind wir doch lahme Enten.«
Ross lachte, doch dann sah er das bekümmerte Gesicht seines Neffen. »Hör mal. Wenn hier irgendwas ist, kommen wir mit den richtig coolen Geräten zurück, okay?«
Sie hatten die Kamera auf eine Zimmerwand ausgerichtet, die Schlafsäcke waren auf dem dreckigen Boden ausgerollt. Das einzige Licht im Raum kam von einer kleinen Taschenlampe, die einen hellen Kreis zwischen Ross und Ethan warf. Ross holte ein Kartenspiel heraus und fing an zu mischen. Ethan nahm es ihm aus der Hand. »Onkel Ross? Meinst du, der Geist hier ist irgendwie auf schreckliche Weise gestorben?«
»Ich weiß doch noch gar nicht, ob hier ein Geist ist.«
Der Junge fing an, die Karten zu verteilen. »Ich würde gern wissen, ob er wütend auf uns ist.«
Ross neigte den Kopf in den Lichtkegel der Taschenlampe. »Um was spielen wir eigentlich?«
»Gummibärchen.«
»Ich setze zwei Gummibärchen.«
Im Grunde glaubte Ross nicht, dass auf dem Pike-Grundstück ein Geist umging. Aber zumindest würde Ethan diese Nacht guttun. Ross stützte sich auf den Ellbogen und beobachtete seinen Neffen, der gerade sein Blatt hinlegte. »Ich hab einen Straight.«
»Drei Buben.«
»Vielleicht müsstest du mit Handicap spielen«, schlug Ethan vor. Er mischte die Karten neu. »Ich denke, ich komme wieder.«
»Hierher?«
»Nein, nicht hierher. Ich meine, wenn ich tot bin.« Er sah sich im Zimmer um, fixierte dann herausfordernd seinen Onkel.
Ross war mit den Warburtons in Häusern gewesen, in denen Kinder gestorben waren. Die Mütter hofften darauf, dass Curtis ihnen zurückgeben würde, was sie verloren hatten. In all den Fällen waren die Warburtons nicht deshalb gerufen worden, weil es seltsame Geräusche und unerklärliche Vorkommnisse gab, sondern gerade weil es sie nicht gab.
Er dachte an seine Schwester und schob die Karten zusammen.
»Ich hab Hunger«, sagte Ethan. Er verschwand in der Dunkelheit und hantierte herum, bis es plötzlich laut krachte.
»Alles in Ordnung?« Ross leuchtete mit der Taschenlampe auf den Proviant, den sie mitgebracht hatten, aber die Ecke des Zimmers war leer.
Ethan meldete sich hinter ihm. »Ich bin hier«, sagte er mit zitternder Stimme. »Das, äh, das war ich nicht.« Er drängte sich an den Rücken seines Onkels.
»Sehen wir uns mal ein bisschen um«, flüsterte Ross. Es herrschte wieder Stille. Ross legte den Arm um Ethans Schultern. »Es kann alles Mögliche gewesen sein, Ethan.«
»Genau.«
»Komm, wir spielen weiter. Diesmal schlag ich dich.«
Ethan entspannte sich ein wenig.
Ross verteilte die Karten, aber seine Augen suchten die Dunkelheit ab. Nichts Ungewöhnliches, nichts, das seine Aufmerksamkeit erregte, bis auf die Verschlusskappe der Videokamera, die an einem schwarzen Band herunterhing und hin und her pendelte.
Obwohl im Zimmer kein Lüftchen wehte.
Von draußen kam ein Geräusch wie ein dumpfer Aufprall – ein fallender Ast oder ein Mensch, der auf allen Vieren landete. »Hast du das gehört?«, raunte Ethan zittrig.
»Ja.« Ross ging zu dem zerbrochenen Fenster und spähte hinaus, sah den Wald, der bis an das Grundstück heranreichte. Etwas Weißes blitzte dort auf – das Hinterteil eines Rehs, eine Sternschnuppe, die Augen einer Eule.
Er hörte Blätter rascheln und deutliche Schritte. Ein kurzer klagender Ruf, wie das Weinen eines Babys.
»Vielleicht sollten wir mal nachsehen«, murmelte Ross.
Ethan schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich bleib hier.«
»Ist wahrscheinlich bloß ein Waschbär.«
»Und wenn nicht?«
Shelby hoffte, dass es ihrem Sohn guttat, Ross bei der Arbeit zu helfen – vielleicht tat das ja beiden gut.
Sie ging in Ethans Zimmer, hob seinen Gameboy vom Boden auf und ein paar Kassetten, die unter dem Bett lagen. Der Spielplan der Bostoner Baseballmannschaft hing an der Wand, und auf dem Schreibtisch lagen die Schulbücher, mit denen Shelby ihn unterrichtete. Sie ließ sich auf sein Bett sinken. Ob Ethan sie wohl vermisste, nur ein bisschen?
Beklommen starrte sie den Computer an. Vor einiger Zeit hatte sie heimlich seine E-Mails gelesen und herausgefunden, dass er sechs Brieffreunde hatte – Kinder aus der ganzen Welt, alle in seinem Alter. Zuerst hatte Shelby sich gefreut. Dass Ethan einen Weg gefunden hatte, mit anderen Kindern Kontakt zu pflegen, machte ihr Mut. Doch dann musste sie feststellen, dass Ethan sich in seinen E-Mails als ein anderer ausgab. Für Sonya in Dänemark war er ein Sechstklässler mit Mathe als Lieblingsfach. Für Tony in Indianapolis war er der Star seiner Baseball-Schulmannschaft. Für Marco in Colorado war er ein begeisterter Bergwanderer, der jedes Wochenende mit seinem Dad eine Tour machte. In keiner einzigen Mail erwähnte er seine Krankheit. Er war ausnahmslos ein ganz normaler, sportlicher Durchschnittsjunge mit glücklich verheirateten Eltern.
Ethan hatte sich zu all dem gemacht, was er nicht war.
Mit einem Seufzer ging Shelby aus dem Zimmer Richtung Treppe. Als sie an Ross’ Tür vorbeikam, zögerte sie. Sie war acht Jahre älter als Ross, und es kam ihr so vor, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang auf ihn aufgepasst.
Sie öffnete die Tür und begann aufzuräumen. Sie machte sein Bett und packte Shampoo und Zahncreme zurück in seinen Kulturbeutel.
Auf dem Stuhl lagen die Kleidungsstücke ihres Bruders in einem unordentlichen Haufen. Kopfschüttelnd strich sie ein Hemd glatt und legte es aufs Bett. Als sie seine Jeans zusammenlegen wollte, fiel etwas aus der Tasche. Shelby bückte sich und hob es auf. Es waren drei Pennys aus dem Jahr 1932.