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Ross drehte sich um und winkte Ethan zu, der oben am Fenster stand, dann näherte er sich behutsam der Stelle im Wald, wo er zuletzt etwas Weißes hatte aufblitzen sehen. Er hatte Ethan die Taschenlampe dagelassen, daher konnte er kaum einen Meter weit sehen, aber er hörte deutlich, dass irgendjemand – oder irgendetwas – sich ganz in der Nähe bewegte.

Ross fröstelte. Hier draußen war es kälter, als er gedacht hatte. Auf einmal roch er den Duft von Wildrosen. Zeig dich, dachte er.

Doch stattdessen sah er plötzlich eine junge Frau vor sich, die auf dem Boden kauerte und versuchte, mit bloßen Händen in der gefrorenen Erde zu graben.

Sie trug ein geblümtes Kleid, und ihr helles Haar flatterte ihr ins Gesicht. Das Weiß, das Ross gesehen hatte, war ein Spitzenkragen. Sie bewegte sich fieberhaft, ganz auf das Graben konzentriert. Sie war jung und hübsch und hatte hier nichts zu suchen. Und sie war ebenso real wie der Boden unter seinen Füßen. Offensichtlich hatte sie ihn noch nicht bemerkt. »Was machen Sie hier?«, fragte er.

Sie drehte sich langsam um und blinzelte dann, als wäre sie überrascht, sich mitten im Wald wiederzufinden. »Ich … ich weiß nicht.« Als sie ihre Hände ansah und den Schmutz unter den Fingernägeln bemerkte, zog sie die Stirn kraus.

»Hat van Vleet Sie geschickt?«

»Ich kenne keinen van Vleet …«

Ross überlegte. Vielleicht war es ja nur ein unwahrscheinlicher Zufall, dass es eine Schlafwandlerin ausgerechnet in der ersten Nacht seiner Geisterjagd auf das Grundstück verschlug? Auf einmal bedauerte er, dass er sie so barsch angesprochen hatte. »Wonach suchen Sie denn?«

Die Frau wurde rot, und es sah so aus, als würde sie von innen leuchten. Als sie den Kopf schüttelte, roch er wieder ihr blumiges Parfüm. »Ich habe keine Ahnung. Letztes Mal bin ich im Schlaf auf den Heuboden eines Nachbarn gestiegen.«

Ross stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin Ross Wakeman«, sagte er.

Sie sah zu ihm hoch, noch immer fassungslos. »Ich muss gehen.«

»Nein, wissen Sie, da, wo ich herkomme, antwortet man auf so etwas mit: ›Hallo, ich bin Susan.‹ Oder: ›Hi, ich bin Hannah.‹«

Ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund. »Ich bin Lia«, sagte sie.

»Und weiter?«

Sie zögerte. »Beaumont. Lia Beaumont.«

Jede Faser ihres Körpers war auf Flucht eingestellt. Sie nickte unsicher und wollte sich entfernen. Ross empfand das unerklärliche Verlangen, sie daran zu hindern, und überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, um sie zum Bleiben zu bewegen.

Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. »Was tun Sie hier um diese Uhrzeit?«

»Ich erforsche paranormale Phänomene.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Geister«, erläuterte er. »Ich suche nach Geistern. Ehrlich gesagt, ich bin hergekommen, weil ich dachte, Ihr Kragen wäre … na, egal. Sie habe ich jedenfalls nicht erwartet.«

»Tut mir leid.«

»Aber nein.«

Sie neigte den Kopf und musterte ihn eindringlich. »Glauben Sie wirklich, Tote können zurückkommen?«

»Glaubt das nicht jeder?« Sie sah traurig aus. »Vielleicht sind wir auch jetzt nicht allein.«

Prompt schaute Lia sich ängstlich um. »Wenn er mich findet …«

Wer?, wollte Ross fragen, aber da drang ein gellender Schrei aus dem Haus. »Onkel Ross!«, kreischte Ethan. »Onkel Ross, komm schnell!«

Ross sah zu dem Fenster hoch, in dem kein Licht mehr zu sehen war, weder von der Taschenlampe noch von der Videokamera. Das Blut wich aus seinem Gesicht. »Ich muss gehen«, sagte er zu Lia und rannte los.

Ethan wusste jetzt, wie Furcht sich anfühlte: wenn einem etwas von allen Seiten die Stirn zusammenpresste und die Beine so heftig zitterten, dass man sich hinsetzen musste, um nicht zu fallen.

»Ich hatte keine Angst, ehrlich«, beteuerte Ethan. »Ich meine, es war bloß komisch, verstehst du? Weil auf einmal alles dunkel war.«

Ross saß neben ihm im Wohnzimmer, und das Infrarotvideogerät war an den Fernseher angeschlossen. Der Bildschirm zeigte ein körniges, dunkles Bild mit zuckenden Rändern. Ethan begriff einfach nicht, was daran interessant sein sollte, sich ein Dreistundenband anzusehen, das nur eine Wand zeigte. Und obwohl das anscheinend ein unerlässlicher Bestandteil der Arbeit eines Geistersuchers war, musste er gähnen.

Ethan war, ehrlich gesagt, völlig ausgeflippt, als die Taschenlampe und die Kamera von allein ausgingen. Wie sich herausstellte, war bei der Kamera einfach das Band zu Ende gewesen, und bei der Taschenlampe waren die Batterien leer.

Jetzt blickte seine Mom stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Entgeht mir da was?«

»Noch nicht.« Ross sah Ethan an. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, es war mit dir im Raum.«

Ethan lief es kalt den Rücken herunter. »Ich … ich dachte, du bist nach draußen gegangen, weil du da was gesehen hattest.«

»Nein, da war jemand.« Plötzlich drückte Ross die Pausentaste an der Fernbedienung. »Seht ihr das?«

»Glühwürmchen?«, sagte Shelby.

»Wann hast du denn das letzte Mal so viele Glühwürmchen gesehen, dass es aussieht wie Schneegestöber?« Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und drehte die Lautstärke höher, sodass seine und Ethans Stimme zu hören waren. »An der Stelle gehe ich«, erläuterte Ross. Seine Schritte auf der Treppe verklangen. »Seht ihr? Die Lichter tauchen auf, nachdem ich weg bin.«

Dann wurde das Bild schwarz.

Ross richtete sich auf. »Ich denke, dass dieses Etwas ins Zimmer kam, als ich draußen war. Die Sternchen auf dem Band – das war Energie, die ihre Gestalt verändert. Und das würde auch erklären, warum die Taschenlampe ausgegangen ist. Geister brauchen Energie, um sich zu materialisieren und zu bewegen. Der hier hat die Batterien in der Taschenlampe dafür benutzt.«

Doch Ethan war allein im Zimmer gewesen, und er hatte nichts gesehen. Oder doch?

Eine Badewanne. Einen Fuß, der aus dem Schaum auftaucht.

Das Bild tauchte unvermittelt vor seinen Augen auf, verschwand aber wieder, bevor er es festhalten konnte. Ethan war inzwischen todmüde. Er hörte die Stimme seiner Mutter wie durch Wasser. »Und was erzählst du jetzt dem Baufritzen?«

Die Antwort seines Onkels bekam Ethan schon nicht mehr mit. Er träumte von einem Strand mit Sand, der so heiß war, dass er ihm unter den Füßen brannte.

»Kommen Sie zurecht?«

Shelby schob ihre Lesebrille höher und sah von dem Mikrofiche-Lesegerät zu dem pockennarbigen Mitarbeiter des Nachlassgerichtes hoch. »Ja, danke.« Zum Beweis zog sie den Leseschlitten heraus und wechselte geschickt die Vorlage, um die nächste Seite des Testaments zu studieren.

Ross hatte sie darum gebeten – und weil er sie so selten um Hilfe bat, hatte sie Ja gesagt. Sie sollte für ihn herausfinden, wie lange das Land schon im Besitz der Familie Pike war und ob es irgendwann von amerikanischen Ureinwohnern besiedelt gewesen war. Für Letzteres gab es keinerlei Hinweis, und sie stellte fest, dass das Grundstück erst seit den Dreißigerjahren Spencer Pike gehörte. Er hatte den Besitz allerdings nicht etwa durch Kauf erworben, sondern geerbt. Von seiner verstorbenen Frau.

Testament von Mrs. Spencer T. Pike aus Comtosook, Vermont.

Shelby runzelte die Stirn, als sie das Datum sah – 1931. Die Unterschrift war zart und krakelig: Mrs. Spencer T. Pike – als hätte es die Frau vor ihrer Heirat gar nicht gegeben. Die Juristensprache war kompliziert, aber der Inhalt lief ganz klar auf eines hinaus: Mrs. Spencer T. Pike hatte alles ihrem Ehemann hinterlassen. Fast.

Ich hinterlasse meinem Ehemann Spencer Pike meine gesamte persönliche Habe, darunter alle Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände meines Hauses, meinen Schmuck und meine Automobile. Ich hinterlasse meinen Nachkommen aus der Ehe mit Spencer Pike mein Grundeigentum an der Kreuzung von Otter Creek Pass und Montgomery Road in Comtosook, Chittenden County im Staate Vermont. Sollten bis zum Zeitpunkt meines Todes keine lebenden Nachkommen aus meiner Ehe mit Spencer Pike hervorgegangen sein, so hinterlasse ich das oben genannte Grundeigentum meinem Ehemann Spencer Pike.