In dem Testament stand nichts darüber, wie ausgerechnet diese Frau mit so wenig Selbstbewusstsein in den Besitz des Grundstücks und des Hauses gekommen war. Ebenso wenig ging daraus hervor, wie ihr Mann ihren frühzeitigen Tod verkraftet hatte, ob er jeden Quadratzentimeter des Grundstücks, das jetzt ihm gehörte, liebend gern verschenkt hätte, wenn er sie dadurch hätte zurückbekommen können.
Shelby verließ das Nachlassgericht. Kaum hatte sie einen Fuß auf die Straße gesetzt, kam ein Streifenwagen der Polizei mit quietschenden Reifen angebraust und hielt knapp vor ihr. Der Fahrer stieg aus, nuschelte eine Entschuldigung und rannte, gefolgt von einem monströs aussehenden Hund, ins Polizeirevier, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Shelby brauchte eine ganze Weile, um sich von dem Schreck zu erholen. Und nahm sich fest vor, noch im Laufe dieser Woche ihr Testament zu machen.
Diesmal war Ross besser ausgerüstet, mit einer Digitalkamera und einem Thermoscanner – alles per Internet auf Shelbys Kreditkarte bestellt, was er seiner Schwester bislang verschwiegen hatte. Ethan wäre begeistert gewesen, aber er war diesmal nicht dabei – Shelbys Nachsicht war offenbar an ihre Grenzen gestoßen. Es war kurz nach elf, etwa eine halbe Stunde bevor der Geist Ethan beim letzten Mal erschienen war. Ross hockte sich hin und wartete. Er hoffte nichts weiter, als dass ihm das Glück genauso hold sein würde wie seinem Neffen.
Er hatte die Geräte auf einer Lichtung ein Stück hinter dem Haus aufgebaut. Rod van Vleet hatte das Gebäude mittlerweile schon zur Hälfte abreißen lassen. Daher würde ein Geist sich einen anderen Aufenthaltsort suchen – und das Grundstück war weitläufig. Die Tatsache, dass Ross just an der Stelle anfing, wo er Lia Beaumont vor einigen Nächten getroffen hatte, war, so redete er sich ein, purer Zufall.
Eine Zeit lang lauschte Ross dem Gezirpe der Grillen und dem Quaken der Frösche. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er Schritte in der Nähe des Hauses hörte. Er blickte auf seinen Thermoscanner. Wenn ein Geist nahen würde, hätte die Temperatur stärker sinken müssen. Dennoch begann sein Herz zu rasen, als er gleich darauf eine Gestalt auftauchen sah.
Der Wachmann vom Steinbruch trug diesmal nicht seine Uniform, doch Ross erkannte ihn sofort. Es gab in Comtosook nicht viele hundertjährige Indianer. Er hielt etwas in der Hand, das aussah wie eine weiße Rose. »Sie?«, sagte Az stirnrunzelnd.
Ross zuckte die Achseln. »Ich bin meistens dort, wo der Geist mich hinführt.«
Der Indianer schnaubte. »Und diesmal hat er Sie zum Handlanger dieser Blutsauger gemacht.«
»Ich arbeite auf eigene Rechnung«, stellte Ross klar. »Die bezahlen mir keinen Penny.«
Das schien den Alten ein wenig zu besänftigen. »Suchen Sie schon wieder nach Geistern?«
»Ja.«
»Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen einer über den Weg liefe?«
»Ein Geist? Keine Ahnung. Hab noch nie einen entdeckt.«
»Meinen Sie, diese Baulöwen wissen, was sie im Fall eines Falles tun würden?«
Ross dachte an van Vleet. »Ich denke, sie würden versuchen, ihn loszuwerden.«
Az’ Mund wurde schmal. »Oh ja, treibt sie schön alle zusammen, und dann ab mit ihnen ins Reservat. Wenn man sie nur weit genug wegschafft, kann man sich einbilden, es hätte sie nie gegeben.«
»Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragte Ross, um das Thema zu wechseln.
Az deutete auf ein paar Zelte, die jenseits der Straße schwach zu erkennen waren. »Ich komme manchmal nachts hierher. Alte Menschen brauchen nicht viel Schlaf«, sagte er trocken. »Warum soll ich meine Zeit mit etwas vertun, was ich sowieso demnächst bis in alle Ewigkeit tun werde?« Az wandte sich ab und ging, aber am Rande der Lichtung drehte er sich um. »Wissen Sie, wenn Sie einen Geist finden, werden Sie ihn nicht loswerden. Ob das van Vleet nun passt oder nicht.« Az verschwand um eine Ecke des Hauses. Der Wind frischte auf. Ross zog sich seine Jacke über. Er war enttäuscht. Es lag sicher daran, redete er sich ein, dass der Alte gekommen war, wo Ross doch auf einen Geist gehofft hatte, und hatte nichts damit zu tun, dass Az gekommen war, wo Ross doch auf Lia gehofft hatte.
Meredith fühlte sich in Dr. Calloways Büro äußerst unwohl. Ganz im Gegensatz zu Lucy, die außer Hörweite am anderen Ende des Raumes mit dem Bauch auf einem kolossalen Plüschfrosch lag und eine Barbie anzog.
»Eine isolierte optische Halluzination ist selten«, sagte die Psychiaterin. »Psychotische Symptome treten häufiger in Gestalt von akustischen Halluzinationen oder als Erregungszustände auf.« Dr. Calloway sah kurz zu Lucy hinüber, die seelenruhig spielte. »Hat sich ihr Verhalten drastisch verändert?«
»Nein.«
»Neigt sie zu Aggressionen? Zu Jähzorn?« Meredith schüttelte den Kopf. »Wie sieht es mit ihrem Ess- oder Schlafverhalten aus?«
Lucy aß sehr schlecht – Meredith witzelte manchmal, dass ihre Tochter per Fotosynthese lebte –, und was das Schlafen anging, nun ja, sie hatte schon seit einer Ewigkeit keine Nacht mehr durchgeschlafen. »Schlafen ist ein Problem«, gab sie zu. »Die Phantasie geht mit ihr durch. Meistens lässt sie das Licht an, und wenn sie einschläft, dann aus purer Erschöpfung.«
»Möglicherweise leidet Lucy unter den gleichen Angstvorstellungen, die bei Achtjährigen ganz normal sind«, sagte Dr. Calloway. »Andererseits sieht sie vielleicht tatsächlich etwas in ihrem Schrank und unter dem Bett.«
Meredith schluckte trocken. Ihr Kind konnte nicht psychotisch sein, ausgeschlossen. Und ganz weit hinten im Kopf blitzte ein Gedanke auf, heiß wie eine Flamme: Du wolltest sie damals nicht, und das ist die Strafe dafür.
»Was soll ich tun?«, fragte sie.
»Vergessen Sie nicht, dass Achtjährige an den Weihnachtsmann glauben, imaginäre Freunde haben und in ihrer eigenen Phantasiewelt leben. In Lucys Alter fangen Kinder gerade erst an, Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden – und es könnte durchaus sein, dass das, was sie zu sehen meint, Teil dieses Prozesses ist.«
»Aber wenn es nicht aufhört?«
»Dann würde ich empfehlen, Lucy auf eine niedrige Dosis Risperdal zu setzen. Aber warten wir erst mal ab.«
»Okay.« Meredith sah zu, wie Lucy anfing, der Puppe Zöpfe zu flechten. »Okay.«
Ross war gar nicht hungrig, daher wusste er auch nicht recht, wieso er in den einzigen Diner im Ort gegangen war – ein Lokal, das es schon so lange gab wie Comtosook selbst und das wie eine Erbkrankheit von einem übergewichtigen Besitzer an den nächsten weitergegeben wurde.
Als Ross eintrat, waren jeder Tisch und jeder Platz an der Theke besetzt. Er beschloss zu warten, lehnte sich gegen eine verspiegelte Wand und holte seine Zigaretten heraus. »Tut mir leid«, sagte die Kellnerin. »Hier ist Rauchen verboten.«
Es kam ihm lächerlich vor, dass ein Restaurant mit einer derart fettlastigen Speisekarte das Rauchen verbot, doch Ross steckte seine Zigaretten wieder ein. »Ich geh draußen eine rauchen«, sagte er zu der Frau. »Halten Sie mir einen Tisch frei?«
Sie lächelte. »Nur wenn ich von Ihnen eine Zigarette kriege.«
Jetzt, fünf Minuten später, lehnte er am Müllcontainer hinter dem Diner und ließ sich den Rauch durch die Kehle gleiten. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die glühende Zigarettenspitze.
Er hätte eine Jacke anziehen sollen – hier hinten war es bestimmt zehn Grad kälter. Solche Temperaturschwankungen waren im Ort inzwischen an der Tagesordnung, und die Einheimischen hatten sich offenbar daran gewöhnt.