Ross drückte die Schultern gegen die Metallwand des Containers, um etwas von der Wärme abzubekommen, die darin gespeichert war. Mit gebeugtem Kopf warf er die Kippe weg.
»Die war aber noch gar nicht zu Ende geraucht.«
Er sah auf. »Lia.«
Selbst wenn sie nichts gesagt hätte, hätte Ross gewusst, dass sie in der Nähe war, denn ihr Blumenduft lag in der Luft. Sie trug wieder das geblümte Kleid, diesmal mit einer Strickjacke darüber.
»Ich habe Sie gesucht«, sagte Lia.
Ihre Worte passten nicht zu ihrer Körperhaltung. Sie sah aus, als wollte sie jeden Moment davonstürzen. Sie hatte etwas Hilfloses, Eingesperrtes an sich, das Ross vertraut vorkam. »Ich hab auch nach Ihnen gesucht.« Erst als er es aussprach, merkte er, dass es die Wahrheit war.
»Haben Sie Ihren Geist schon gefunden?«
»Nicht meinen Geist«, stellte Ross klar. »Einen Geist.« Er lächelte sie an. »Warum haben Sie mich gesucht?«
Lia sprach hastig. »Weil … weil ich neulich nicht dazu gekommen bin, Ihnen zu sagen, dass ich … ich suche nämlich auch nach Geistern.«
»Ach ja?« Ross war völlig perplex.
»Aber ich bin wohl Amateurin, im Vergleich zu Ihnen.«
»Haben Sie schon mal was entdeckt?«, fragte Ross.
Sie schüttelte den Kopf. »Hat das überhaupt schon mal jemand?«
»Ja, sicher. Ich meine, mal abgesehen von Geisterfotografie und Medien ist sogar schon an den Universitäten von Princeton und Edinburgh auf dem Gebiet geforscht worden. Sogar die CIA hat Untersuchungen zu übersinnlicher Wahrnehmung und Telepathie in Auftrag gegeben.«
»Die CIA?«
»Ja«, sagte Ross. »Offizielle Stellen sind sogar zu dem Schluss gekommen, dass Menschen an Informationen gelangen können, ohne ihre fünf Sinne zu benutzen.«
»Das ist aber noch kein Beweis für das Leben nach dem Tod.«
»Nein, aber es lässt vermuten, dass Bewusstsein mehr ist als nur etwas rein Physisches. Vielleicht ist es nur eine andere Form von Hellsichtigkeit, wenn man einen Geist sieht. Vielleicht sind Geister gar nicht richtig tot, sondern leben irgendwo in der Vergangenheit, und …« Ross’ Stimme erstarb. »Entschuldigen Sie. Ich weiß … die meisten Leute halten das, was ich mache, für Spinnerei.«
»Das kriege ich auch oft zu hören.« Lia lächelte zaghaft. »Und bitte entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin noch nie einem Wissenschaftler begegnet, der nicht ins Schwärmen gerät, wenn es um seine Arbeit geht.«
Ein Wissenschaftler. War Ross je so genannt worden? Er war geschmeichelt, erstaunt, fasziniert. Um seine Verunsicherung zu überspielen, griff er nach seinen Zigaretten und bot Lia eine an. Ihre Hand hob sich unsicher, dann verschwand sie rasch hinter ihrem Rücken. Aber es war Ross nicht entgangen, dass sie einen schmalen goldenen Ring am Finger trug.
Wieder brach für ihn eine Welt zusammen.
»Er wird’s nicht erfahren«, sagte Ross und sah ihr in die Augen.
Lia starrte ihn an. Dann zog sie eine Zigarette aus der Packung und ließ sich von Ross Feuer geben. Sie rauchte, als wollte sie ein Geheimnis verschlucken – einen Schatz, der behütet werden wollte. Sie schloss die Augen, hob das Kinn, und die geschwungene Linie ihres Halses wurde sichtbar.
In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass sie die Frau eines anderen war, dass die wenigen Minuten, die Ross mit ihr hatte, nur gestohlen waren. Es mochte der Beginn eines schweren Fehlers sein, aber Ross brachte es nicht fertig, sie gleich wieder gehen zu lassen. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Es verrät Sie schon niemand.«
»Die ganze Stadt kommt in den Diner. Wenn er erfährt, dass ich mit Ihnen da war …«
»Na und? Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Wir sind zwei Freunde, die sich über Geister unterhalten haben.«
Falsche Antwort. Lia wurde sichtlich blass, und Ross sah wieder ihre Verletzlichkeit. »Ich habe keine Freunde«, sagte sie leise.
Keine Freunde. Und du darfst nicht mal einen Kaffee trinken und musst dich mitten in der Nacht davonstehlen. Was mochte das für ein Tyrann sein, der Lia so vollkommen beherrschte?
»Nur eine Tasse«, flehte Ross.
»Na schön«, gab sie schließlich nach. »Eine Tasse.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und fixierte ihn dabei. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Neulich im Wald.«
»Ich meine davor.«
Ross schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er, aber er hatte das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben. Aber vielleicht wünschte er sich das ja nur.
Er wollte sie fragen, warum sie vor ihrem Mann Angst hatte. Er wollte sie fragen, was sie ausgerechnet jetzt zu dem Diner geführt hatte, wo er da war. Aber er fürchtete, wenn er auch nur irgendetwas sagte, würde sie einfach verschwinden, wie die Rauchfäden, die zwischen ihnen schwebten.
»Glauben Sie wirklich, dass es dort einen Geist gibt?«, fragte Lia.
»Auf dem Pike-Grundstück? Vielleicht. Falls es tatsächlich ein alter Indianerfriedhof ist.«
»Ein Indianerfriedhof?« Die Idee schien sie zu verblüffen. »Das glaube ich nicht.«
»Kennen Sie sich in der Gegend aus?«
»Ich bin hier aufgewachsen.«
»Und Sie haben nie irgendwas gehört, dass da früher mal eine Indianersiedlung gewesen sein könnte?«
»Da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden.«
Ross überlegte. Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen.
»Aber dieser Indianer … das ist doch nicht Ihr erster Geist«, sagte Lia zögernd.
»Doch, und auch nur, falls er sich mal zeigt.«
»Nein, ich wollte sagen, das ist nicht der Geist, der Sie dazu gebracht hat, nach Geistern zu suchen.« Sie neigte den Kopf, und ihr Haar fiel nach vorne, verdeckte ihr Gesicht. »Meine Mutter ist am Tag meiner Geburt gestorben. Manchmal suche ich sie.«
Plötzlich wurde ihm klar, dass der Grund für Lias Glaube an paranormale Phänomene nicht Aufgeschlossenheit war, sondern Verzweiflung – wie bei ihm. Dass er bei ihr denselben Schmerz erkannte wie bei sich selbst.
Lia streckte den Arm aus, schob den Ärmel ihrer Strickjacke hoch und entblößte ein ganzes Netz von Narben. »Manchmal muss ich mich selbst schneiden«, gestand sie, »weil ich ganz sicher bin, dass ich nicht bluten werde.«
Es war so lange her, dass irgendjemand ihn verstanden hatte. »Mein Geist«, sagte Ross mit belegter Stimme. »Ihr Name ist Aimee.«
Und er erzählte, was er alles an Aimee geliebt hatte – ihr Lächeln zum Beispiel oder die rauhe Stelle an ihren Ellbogen. Er sprach von dem traumatischen Unfall und davon, was für ein Gefühl mit der Einsicht einherging, dass manche Fehler unauslöschlich sind. Er sprach, bis seine Kehle ganz heiser war und er seine ganze Trauer wie eine Gabe zu Lias Füßen ausgebreitet hatte.
Als er fertig war, weinte sie. »Glauben Sie wirklich, dass man einen Menschen sehr lieben kann, sehr, sehr lieben kann, auch wenn man in verschiedenen Welten lebt?«
Ross spürte, dass die Frage sich nicht nur auf seinen eigenen Schmerz bezog. »Wie kann ich denn nicht daran glauben?«
Sie machte ein paar Schritte rückwärts. »Ich muss gehen.«
Instinktiv griff Ross nach ihr – und ebenso rasch wich Lia zurück.
»Lia, sagen Sie mir, was er Ihnen angetan hat.«
»Er betet mich an«, flüsterte sie. »Er liebt eine Frau, die es eigentlich gar nicht gibt.«
Damit hatte Ross nicht gerechnet. Konnte man einen anderen Menschen so sehr lieben, dass man ihn quälte, ohne es zu wollen?
Lia berührte sacht seinen Ärmel, und die Tränen an ihren Fingerspitzen hinterließen einen kühlen Fleck. »Wenn Sie Aimee finden«, sagte sie leise, »sagen Sie ihr, wie glücklich sie sich schätzen kann.«