Als Ross den Blick hob, entfernte sie sich bereits. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen: Was konnte sie nur getan haben, dass sie meinte, der Zuneigung ihres Mannes nicht würdig zu sein? Und falls Lia ihn liebte, warum brach es ihr dann das Herz?
Ross hatte sie nicht bekümmern wollen. Er hatte ihr nur begreiflich machen wollen, dass sie nicht allein war. »Lia«, rief er und eilte ihr nach, doch sie blickte nur kurz über die Schulter und beschleunigte dann ihre Schritte.
»He.« Die Kellnerin öffnete die Eingangstür des Diners. »Jetzt ist ein Tisch frei!«
Ross folgte ihr hinein. Sie führte ihn an einen Tisch, der noch nicht abgeräumt war. Er setzte sich und gab ihr eine Zigarette, wie versprochen.
Sie lachte, schob sie sich in den Ärmel und wischte den Tisch ab. »Ganz allein unterwegs?«
Er sah zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, ja.«
Als die Kellnerin verschwand, um ihm Besteck und eine Tasse Kaffee zu holen, bemerkte Ross den Penny, der auf dem Tisch lag. Er war 1932 geprägt worden.
Zu Hause überlegte Ross, was er über Lia wusste: Sie hatte einen ungemein schüchternen Eindruck auf ihn gemacht. Das Übernatürliche faszinierte sie, aber sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Schatten. Freiheit gab es für sie nur in der Nacht. Sie war mit einem Mann verheiratet, der sie regelrecht gefangen hielt.
Und, ja, sie war innerlich gebrochen. Sie verbarg es gut, doch Ross wusste aus eigener Erfahrung, dass man, auch wenn die Einzelteile wieder zusammengefügt wurden, nach einem solchen Sturz nie wieder derselbe Mensch war.
Er ließ das Band, das er einige Nächte zuvor aufgenommen hatte, vorlaufen, spielte sein Gespräch mit Az Thompson erneut ab. Das Problem war, dass er sich stärker für Lia Beaumont interessierte als für die Frage, ob auf dem Grundstück ein Geist umging oder nicht.
Auf dem Band war absolut nichts Verwertbares. Was sollte er Rod van Vleet sagen?
Das Telefon klingelte, riss ihn aus seiner Grübelei. Er griff hastig nach dem Hörer, damit Shelby und Ethan nicht wach wurden. »Hallo?«
Es meldete sich niemand, aber Ross hörte ein sanftes Rauschen. Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Lia?«, murmelte er.
Sie war es. Darauf hätte er alles verwettet. Sie konnte sich nicht mit ihm treffen, aber sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Und das teilte sie ihm auf diese Weise mit.
Ross legte nicht wieder auf. Er schlief mit dem Hörer am Ohr ein, sein erster richtiger Schlaf seit Tagen.
Vor Tausenden von Jahren siedelten die Abenaki nicht nur vom Nordwesten Vermonts bis in den Südwesten, sondern auch im Westen von Massachusetts, in Teilen New Hampshires und sogar in Quebec. Sie nannten das Gebiet nd’akina, was so viel hieß wie »unser Land«. Der Name ihres Stammes, Abenaki, bedeutete »Volk der Morgendämmerung«. Sie selbst bezeichneten sich als alnôbak, Menschenwesen. Irgendwann betrug ihre Zahl vierzigtausend.
Sie lebten vom Ackerbau, und ihre Dörfer lagen meist in den Feuchtgebieten der Flüsse. Durch Jagd und Fischerei ergänzten sie ihren Speiseplan. Während der längsten Zeit des Jahres lebten sie zerstreut in großen Familienverbänden, doch im Sommer kamen sie alle zusammen. Sie hatten kein allgemeines Oberhaupt. Wenn sie Krieg führten, verließen die Abenaki ihre Dörfer, teilten sich in kleinere Gruppen und tauchten irgendwo weiter weg wieder auf, um zum Gegenangriff überzugehen. Häufig zogen sie sich dann auch nach Quebec zurück, weshalb viele Kolonialisten in Neuengland sie für kanadische Indianer hielten und ihnen unter diesem Vorwand einen Großteil ihres Landes in Maine, New Hampshire und Vermont wegnahmen, ohne sie je dafür zu entschädigen.
Im Jahre 2001 lebten noch schätzungsweise 2500 Abenaki in Vermont. Aber ob davon einige jemals auf dem Pike-Grundstück gelebt hatten, war Ross noch immer ein Rätsel, obwohl er das Internet durchforstet und fast jedes historische Nachschlagewerk in der Stadtbücherei von Comtosook in der Hand gehabt hatte.
Frustriert ließ er den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Shelby trat hinter ihn und massierte ihm die Schultern. »Glück gehabt?«
»Und damit verdienst du dein Geld?«, ächzte Ross.
»Ich schließe daraus, dass du nichts gefunden hast.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihn und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick auf Ethan, dass er noch immer mit seinem Gameboy beschäftigt war. »Vermont ist nicht gerade berühmt für dokumentarische Genauigkeit«, sagte sie. »Die meisten alten Dokumente verschimmeln irgendwo im Keller des Stadtarchivs. Und in denen ist meist auch nur die Geschichte der Engländer verzeichnet, die sich hier niedergelassen haben. Ich glaube kaum, dass die Ureinwohner vor tausend Jahren schon wussten, wie wichtig Besitzurkunden sind.«
Ross betrachtete den Monitor. »Ich will mal sehen, was ich über diese Briten rausfinden kann. Vielleicht werden in ihren Aufzeichnungen ja irgendwelche Indianersiedlungen erwähnt.«
»Mach, was du willst. Ich bringe Ethan jetzt nach Hause.«
»Eine Frage noch, Shel«, rief Ross, als seine Schwester schon an der Tür war. »Kommt dir der Name Beaumont bekannt vor?«
»Ist das einer von den englischen Siedlern?«
»Nein.« Ross rief das Adressverzeichnis von Comtosook im Computer auf.
Shelbys Kollegin sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »An der Universität von Vermont gibt es eine Fachbibliothek für Biologie, die nach einem Beaumont benannt ist. Wir leihen uns manchmal dort Bücher aus.«
»Tut mir leid, Ross«, sagte Shelby kopfschüttelnd. »Sagt mir gar nichts.«
Sie schob Ethan zur Tür hinaus, während Ross den Namen in den Computer tippte.
BEAUMONT, ABEL. 33 Castleton Rd.
BEAUMONT, C. Postfach 358.
BEAUMONT, W. 569 West Oren St.
Er hatte auch nicht damit gerechnet, Lias Namen auf der Liste zu finden. Es würde nicht leicht sein, die Beaumonts mit der Postfachanschrift zu finden, doch die beiden anderen Adressen waren kein Problem. Er packte seine Sachen ein.
»Erfolg gehabt?«, fragte die Bibliothekarin lächelnd.
Ross pfiff vor sich hin. »Könnte man so sagen.«
Meredith saß über ihr Mikroskop gebeugt und untersuchte eine einzige Zelle von einem Embryo, der kürzlich in einem Reagenzglas entstanden war. Wie es aussah, war der hier nicht dazu verdammt, Mukoviszidose zu erben – ein kleines Wunder, da die vorausgegangenen vier Versuche des Paares, ein gesundes Kind zu bekommen, gescheitert waren. Sie streckte den Rücken und lächelte: Der hier würde es schaffen. Und Meredith musste es wissen.
Bei Lucy war es nämlich so ähnlich gewesen. Nicht weil genetisch irgendwelche Hindernisse bestanden hätten, sondern weil die Umstände dagegen sprachen. Acht Jahre zuvor hatte Meredith eine Beziehung zu einem Professor beendet, der zu beschäftigt gewesen war, um sie zur Beerdigung ihrer Mutter nach Maryland zu begleiten. Ihre Mutter war noch keine sechzig gewesen, als sie aus heiterem Himmel an einem Herzinfarkt starb. Meredith war am Boden zerstört, doch für ihre Großmutter war es noch schlimmer, und so musste Meredith, damals sechsundzwanzig, sich um alles kümmern. Sie konnte sich noch lebhaft an den surrealen Besuch bei dem Bestattungsunternehmen erinnern, wo sie nicht nur den Sarg, sondern auch die Farbe des Stoffes für die Sargauskleidung aussuchen musste. Sie erinnerte sich an die Beerdigung, als Granny Ruby sich mit ihrem zarten Gewicht gegen sie gelehnt hatte und Meredith gezwungen war, aufrecht und gerade zu stehen.
Sie beschloss, nach Boston zu fahren, ihre Dissertation abzuschließen, und dann nach Silver Spring zurückzukehren und zu Granny Ruby ins Haus zu ziehen. Doch vier schlaflose Nächte forderten ihren Tribut: Nach einigen Stunden Fahrt verlor sie die Kontrolle über ihren Civic.