Выбрать главу

Als Meredith im Krankenhaus erwachte, das linke Bein in Gips, Prellungen am ganzen Körper, stand an ihrem Bett eine Krankenschwester, die ihr versicherte, dass es ihrem Baby gut gehe. Baby? Was für ein Baby? Man brachte ihr schonend bei, dass eine Ultraschalluntersuchung zur Feststellung möglicher innerer Verletzungen ergeben hatte, dass sie in der achten Woche schwanger war.

Sie wollte keine alleinerziehende Mutter sein. Sie wollte gar keine Mutter sein, basta. Sie wollte nur ihre eigene Mutter wiederhaben. Also vereinbarte sie einen Termin für eine Abtreibung.

Den hielt sie nicht ein.

Heute liebte sie ihre Tochter und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, hätte vor acht Jahren alles anders laufen können.

Ach Lucy, dachte sie, wenn ich doch die Zeit zurückdrehen könnte. Sie würde weniger arbeiten und mehr mit ihrer Tochter unternehmen. Sie würde zugeben, dass sie nicht auf alles eine Antwort hatte und vielleicht auch nie die richtigen Antworten finden würde.

Weder die Castleton Road noch die West Oren Street lagen in der Nähe des Pike-Hauses, trotzdem fuhr Ross zu den beiden Adressen. Aber Lia Beaumont wohnte weder in dem verschlafenen viktorianischen Häuschen noch in dem Blockhaus, das von einem Schäferhund namens Armageddon bewacht wurde. Möglicherweise war die Postfachanschrift die richtige. Er würde sie fragen, wenn er sie das nächste Mal sah. Falls er sie sah.

Ross hatte nur noch in dem Diner gegessen, und die letzten beiden Nächte hatte er auf dem Pike-Grundstück Wache gehalten, aber Lia Beaumont war nicht gekommen.

Ross wollte sie fragen, ob sie glaubte, dass ihre Mutter gefunden werden wollte, auch wenn es Jahre dauerte. Er wollte sie fragen, ob sie ihren Mann genauso liebte, wie er Aimee geliebt hatte. Er wollte herausfinden, ob es tatsächlich eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen gab.

Außerdem machte Ross sich Sorgen, ob der Ehemann vielleicht von ihrem Treffen am Diner erfahren und sie dafür bestraft hatte. Schließlich begann Ross sogar, die Todesanzeigen zu lesen, und war erleichtert, wenn er ihren Namen nirgends entdeckte.

Während mancher Nächte auf dem Pike-Grundstück war mehr los als sonst. Es gab jähe Temperaturschwankungen, und manchmal blitzten zwischen den Ästen kleine blaue Lichter auf. Ab und zu war der Kiefernduft so stark, dass man kaum noch Luft bekam. Zweimal hatte Ross leise ein Baby weinen gehört.

Als er in der dritten Nacht am Rande der Lichtung saß, die Nacht stockfinster, fiel ein Stein vom Himmel. Er war etwa so groß wie ein Teller und auch beinahe so flach und traf Ross mit großer Wucht am Schienbein. »Verdammt!«, schrie Ross und sprang auf. Er spürte, wie sein Bein unterhalb des Knies anschwoll. Als er mit der Taschenlampe in den nächsten Baum leuchtete, konnte er nichts entdecken. »He!«, schrie er wütend auf. »Wer ist da?«

Nichts. Er riss einen Ast ab und schlug damit auf den Baum ein, weil er so aufgebracht war. Erst als er innehielt, hörte er das Graben.

Es war schwach, aber deutlich zu hören. Ross humpelte über die Lichtung. Seine Taschenlampe beleuchtete etwa dreißig kleine Erdhügel, die ohne jede erkennbare Ordnung verteilt waren.

Das Grundstück war an einigen Stellen von diversen archäologischen Expertenteams untersucht worden, doch dieser Teil war unberührt gewesen, als Ross in der Abenddämmerung auf die Lichtung gekommen war. Und als Ross sich bückte und versuchte, einen Stock in das Erdreich zu bohren, war der Boden genauso hart gefroren wie bereits seit Tagen.

Ross hatte noch nie einen Indianerfriedhof gesehen, aber er stellte sich vor, dass er ungefähr so aussah.

Er zog seine Digitalkamera aus der Tasche und machte mehrere Fotos. Dann spähte er in das winzige LCD-Display, um sich die Aufnahmen anzusehen. Doch auf allen war der Boden vollkommen glatt, von einer unberührten Eisschicht bedeckt. Verwundert richtete Ross die Lichtkegel seiner Lampe auf die Stelle.

Es waren keine Hügel da.

Er bückte sich und rollte sein Hosenbein hoch – die Schwellung war da, dick und blau unterlaufen. Der Stein war tatsächlich gefallen. Das Geräusch war ein Grabegeräusch gewesen. Die Erdhügel waren da gewesen.

Ein Grund mehr, sich Lia herbeizuwünschen: Wenn sie die Hügel heute Nacht auch gesehen hätte, müsste Ross nicht an seinem Verstand zweifeln.

Ethan hasste es, zum Hautarzt zu gehen.

Es erinnerte ihn daran, was für ein Monster er war.

Heute waren ihm drei präkanzeröse Wucherungen aus dem Gesicht entfernt worden. Er fühlte sich klein und schwach.

Wieder zu Hause, in seinem Zimmer, stellte er sich vor den Spiegel. Die Blasen hatten sich noch nicht gebildet – das würde erst morgen passieren. Aber schon jetzt war sein Gesicht ein Globus mit wandernden, fleckigen Kontinenten an den Stellen, wo die Wucherungen entfernt worden waren.

Unwillkürlich hob er die Faust und rammte sie in den Spiegel. Blut lief ihm am Arm herunter, aber er hatte erreicht, was er wollte: Er musste sich jetzt nicht mehr selbst sehen.

»Ethan?« Die Stimme seiner Mutter. »Ethan!« Sie war jetzt hinter ihm, umwickelte seine Faust mit einem Laken, das sie vom Bett gerissen hatte. »Wie ist das passiert?«

»Es tut mir leid«, Ethan wippte vor und zurück. »Es tut mir leid.«

»Was hast du nur angestellt?«

Ethan riss seine Hand weg. »Wieso benutzt du dauernd so blöde Wörter, die kein Mensch versteht? Wieso sagt mir nie einer die Wahrheit?«

Seine Mutter starrte ihn an. »Was willst du hören, Ethan?«

Er schluchzte, und ihm lief die Nase. »Dass ich ein Monster bin.« Er hob die gespreizten Finger ans Gesicht, beschmierte Kinn und Wangen mit Blut. »Sieh mich doch an, Ma. Sieh mich doch nur an.«

Seine Mutter brachte ein Lächeln zustande. »Ethan, Schatz, du bist müde. Du müsstest längst im Bett sein.« Ihre Stimme nahm den üblichen beruhigenden Tonfall an. Sie senkte sich auf Ethans Schultern, und er musste dagegen ankämpfen, einfach nachzugeben. Er spürte, wie seine Mutter seine Hand untersuchte und ihn dann ins Bad führte, um ihn zu verarzten.

»Ich glaube, das muss nicht genäht werden«, sagte sie, als sie seine Hand verband. Dann brachte sie ihn zurück in sein Zimmer. Ethan stieg ins Bett und starrte den leeren Spiegelrahmen an der Wand an.

»Schlaf jetzt, danach geht’s dir wieder besser«, sagte seine Mutter, und Ethan wusste nicht, ob sie mit ihm oder sich selbst sprach. »Wenn du aufstehst, machen wir was Schönes zusammen – vielleicht holen wir das Teleskop raus und suchen die Venus … oder wir sehen uns alle Star-Wars-Filme hintereinander an … das wolltest du doch schon immer, nicht?« Während sie sprach, kauerte sie auf dem Boden und sammelte die Spiegelscherben ein. Er war nicht sicher, ob sie weinte.

Eli schreckte aus dem Schlaf und setzte sich auf, rang nach Luft. Das ganze Zimmer duftete so intensiv nach Äpfeln, als hätte er direkt neben einer Apfelpresse geschlafen. Er rieb sich die Augen, konnte aber das Bild nicht loswerden, das ihm vorschwebte: schon wieder diese Frau. Sie kauerte auf dem Boden und versuchte weinend, ein scheinbar unmögliches Puzzle zusammenzufügen.

Er kannte ihre Stimme, obwohl er sie nie hatte sprechen hören. Er wusste, dass sie unter dem linken Ohrläppchen eine Narbe hatte, dass ihr Mund nach Vanille und Traurigkeit schmeckte.

Seine Mutter hatte an die Macht der Träume geglaubt. »Wenn wir wach sind«, so hatte sie immer gesagt, »sehen wir, was wir sehen müssen. Wenn wir schlafen, sehen wir, was wirklich ist.«

Er hatte sich oft gefragt, ob seine Mutter je geträumt hatte, dass sie einen Weißen heiraten würde, dass sie irgendwann an Diabetes sterben würde. Und er fragte sich, ob sie gewusst hatte, dass ihr einziger Sohn sich lieber einen Arm abhacken würde, als den Indianerglauben anzunehmen, dass Träume mehr waren als wüst drauflos feuernde Neuronen.