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Ross lief zu dem EMF-Gerät und versuchte, die Anzeige abzulesen. »Die Taschenlampe«, rief er Lia zu, gerade als er mit dem Schuh gegen die Lampe stieß. Das Rauschen ließ nach. Einen überzeugenderen Beweis für einen Geist hatte er nie zuvor erlebt, doch in diesem Augenblick wäre es Ross egal gewesen, wenn der Geist direkt auf ihn zugekommen wäre. Er musste Lia finden, musste den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen.

Ross schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl im Kreis wandern, aber Lia war verschwunden.

Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand im Verlauf einer paranormalen Untersuchung davonlief. Doch Lias Angst hatte nichts mit dem Nahen der Geister zu tun. Es war die gleiche Angst, die Ross empfunden hatte und die ihn noch immer zittern ließ: die Einsicht, dass er zum zweiten Mal in seinem Leben jemanden brauchte, den er nicht haben konnte.

VIER

Die Einwohner von Comtosook stellten sich nach und nach auf eine Welt ein, die aus den Fugen geraten war. Alle hatten stets einen Schirm dabei, um sich gegen den Regen zu schützen, der rot wie Blut vom Himmel fiel und zu einer feinen roten Staubschicht trocknete. Porzellan zerbrach Punkt zwölf Uhr mittags, ganz gleich, wie sorgfältig es eingepackt worden war. Mütter weckten ihre Kinder, damit sie sich die Rosen ansehen konnten, die um Mitternacht erblühten. Hosennähte platzten ganz von selbst auf, und Wasser begann nicht zu kochen, und wenn es noch so lange erhitzt wurde.

Manche machten die globale Erwärmung für die Ereignisse verantwortlich, andere hielten es schlicht für persönliches Pech. Aber als Abe Huppinworth feststellte, dass in seinem Laden jeder einzelne Artikel in den Regalen auf den Kopf gestellt worden war, überlegte er laut, ob nicht vielleicht dieser indianische Geist vom Otter Creek Pass was damit zu tun haben könnte. Und die drei Kunden, die das mitbekommen hatten, erzählten es ihren Nachbarn, und noch ehe es Abend wurde, spekulierte ganz Comtosook, ob es nicht doch besser wäre, dem Stück Land seinen Frieden zu lassen.

Rod van Vleet war nicht gerade begeistert von dem, was Ross Wakeman ihm zu berichten hatte. Falls es tatsächlich einen Geist gab – so lächerlich das auch klang –, was sollte Rod dann machen? Das Haus war abgerissen, die Trümmer wurden bereits abtransportiert. Die Redhook-Gruppe würde bauen, egal wie viele Unterschriftensammlungen und Petitionen auf seinem Schreibtisch landeten.

Und dennoch wollte Rod wissen, ob er dabei war, einem Geist die Heimstatt zu nehmen. Ob die Tatsache, dass alles, was er in letzter Zeit aß, nach Sägemehl schmeckte und dass seine Zahnbürste jeden Abend verschwunden war, irgendetwas mit seinem aktuellen Bauprojekt zu tun hatte.

»Diese Dinger da …« Rod zeigte auf den Fernsehschirm, wo ein grobkörniges Bild von einem nächtlichen Wald mit blauen Linien und schwebenden Lichtkugeln durchsetzt war. »Sollen die ein Geist sein?« Er entspannte sich innerlich. Was auch immer er erwartet haben mochte, das jedenfalls nicht. Ein paar Funken und Blasen konnten schließlich keinem etwas anhaben. Schon gar nicht das Geschäft gefährden.

Ross Wakeman war ein Scharlatan, so einfach war das. Er hatte die Gelegenheit gesehen, sich ein bisschen Aufmerksamkeit zu verschaffen, und sich Rod dafür zunutze gemacht.

»Das ist nicht der eigentliche Geist«, erklärte Wakeman. »Das ist die Wirkung, die der Geist auf die Geräte hat. Auf dem Grundstück sind Taschenlampen ausgegangen, außerdem hab ich diese aufgezeichneten Störungen hier und sehr starke Ausschläge bei Geräten, die Magnetfelder messen.«

»Mumpitz«, sagte Rod. »Nichts Konkretes.«

»Nur weil etwas nicht gemessen werden kann, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert.«

Plötzlich flog die Tür zum Baucontainer auf. Drei Baggerführer stürmten herein, deren Bagger so reglos dastanden wie schlafende Dinosaurier.

Einer von den dreien sagte wütend zu van Vleet: »Wir kündigen.«

»Sie können nicht kündigen. Die Arbeit ist noch lange nicht erledigt.«

»Scheiß drauf.« Er nahm seinen Schutzhelm ab und warf ihn van Vleet wie einen Fehdehandschuh vor die Füße. »Die machen uns wahnsinnig.«

»Wer, die?«

»Die Fliegen«, schaltete sich ein anderer Arbeiter ein. »Die Biester fliegen einem direkt ins Ohr und surren wie wild drin herum.« Seine Hände machten hektische, kreisende Bewegungen.

»Und wenn man sie verscheuchen will«, fügte der Erste hinzu, »ist nichts da.«

Der dritte Arbeiter bekreuzigte sich.

Ross hüstelte, und van Vleet warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten«, beruhigte er sie. »Ist bestimmt der Wind. Oder Sie haben was mit den Ohren.«

»Dann ist es höllisch ansteckend; die Abenaki da draußen haben es nämlich auch gehört. Und der Alte hat das Wort buchstabiert, das wir alle gehört haben. C-H-I-J-I-S. Das heißt Baby in seiner Sprache.«

»Ist doch klar, dass der euch so was erzählt!«, rief van Vleet. »Der will, dass ihr geht. Der will euch Angst einjagen, damit ihr genau das macht, was ihr jetzt vorhabt –nämlich die Arbeit hinschmeißen.«

Die Männer wechselten Blicke. »Wir haben keine Angst. Aber solange Sie den Geist hier nicht losgeworden sind, müssen Sie sich andere Leute suchen.« Sie nickten zum Abschied und marschierten nach draußen.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Ross.

Van Vleet griff zum Telefon. »Ich muss neue Arbeiter finden«, sagte er. »Für so was hab ich keine Zeit.«

Das Blut lief ihr ins Gesicht.

Meredith war kaum aus dem Gebäude getreten, als die Flüssigkeit ihr ins Haar klatschte und über Wangen und Hals tropfte. »Wie viele Babys habt ihr heute wieder umgebracht?«, schrie eine der Demonstrantinnen.

Sie wischte sich die Augen frei. Kein richtiges Blut, bloß roter Saft. Das Institut war nicht so häufig Ziel von Demonstrationen wie die Abtreibungskliniken in der Gegend, aber die Kritik war dieselbe – schließlich gehörte es zu Meredith’ Aufgaben zu entscheiden, welche Embryos leben und welche verbrannt werden sollten, und das konnten die Abtreibungsgegner nicht akzeptieren. »Wir sprechen uns wieder, wenn du unfruchtbar bist«, knurrte Meredith leise und ging dann rasch zu ihrem Auto.

Meredith erinnerte sich noch gut, dass die Klinik damals nach Metall und Mundwasser roch. Dass das Wartezimmer voller Frauen war, viele blutjung. Dass sie die ersten beiden Bänder hinten an ihrem OP-Hemd zugebunden hatte, bevor sie beschloss, dass sie die Sache nicht durchziehen konnte.

Was, wenn ihre Schwangerschaft doch nicht so ein kolossaler Fehler war, wie sie glaubte? Was, wenn der Zeitpunkt nicht falsch, sondern goldrichtig war – ein Weckruf, eine Botschaft? Dann würde ihr Baby eben keinen Vater haben, na und? Meredith’ Vater war gegangen, als sie vier Jahre alt war. Danach hatte sie ihn nur noch ein paarmal gesehen. Und doch war sie der lebende Beweis dafür, dass man mit der richtigen Mutter sehr gut ohne Vater auskommen konnte. Wenn sie Luxe schon nicht wieder zum Leben erwecken konnte, so hatte sie jetzt wenigstens die Möglichkeit, ihr zu zeigen, was sie von ihr gelernt hatte. Sie würde ihre Tochter behüten und beschützen, sie würde sie mit Liebe großziehen.

Als sie sich wieder angezogen hatte und aus der Klinik kam, schüttete einer der Demonstranten einen Eimer falsches Blut über ihr aus. Meredith packte den Mann am Kragen und schrie ihn an, dass sie es nicht hatte machen lassen. Dann brach sie in den Armen des Fremden in Tränen aus.

Sie gaben ihr Kekse zu essen und Kakao aus einer Thermosflasche. Sie boten ihr einen Platz auf einer Decke an. Der Mann, der sie begossen hatte, gab ihr sein trockenes Hemd. An diesem Nachmittag war Meredith ihre Heldin.

Jetzt, fast zehn Jahre später, betrachtete Meredith die Demonstranten im Rückspiegel. Sie wünschte, sie hätte den Mut, zurückzugehen und sie zu fragen, ob einer von ihnen schon mal eine Entscheidung hatte treffen müssen, die sein ganzes Leben veränderte. Sie wünschte, sie könnte sie mit in ihr Labor nehmen, wo so viele gesunde Embryos warteten. Sie wünschte, sie könnte ihnen erklären, dass es auch Leben gab, das gar kein Leben vor sich hatte.