Dann steuerte Meredith ihren Wagen vom Parkplatz und machte sich auf den Weg nach Hause, wo sie ihre Tochter auf der Couch vorfinden würde, wie betäubt und lethargisch von den Psychopharmaka.
Ross saß in der Notaufnahme und blickte in die Gesichter der Verletzten und Kranken, die durch die automatische Tür kamen. Jedes Mal, wenn es nicht Lia war, entspannte er sich ein bisschen. Er war nun schon zwei Tage hier, hatte herausgefunden, dass keine Lia Beaumont eingeliefert worden war. Seine größte Befürchtung war, dass sie sich etwas antun könnte – oder dass ihr Mann ihr etwas antun könnte –, bevor Ross Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen.
Er wollte ihr sagen, dass er sich nicht mehr genau an Aimees Augen erinnern konnte. Acht Jahre lang hatte Ross sie deutlich vor sich gesehen, die leichte Mandelform, das zimtfarbene Zentrum, die Wimpern, die auf ihre Wangen einen Schatten warfen, wenn sie schlief. Doch seit der Nacht, in der Lia die Lippen an sein Ohr gelegt hatte, konnte er sich Aimees Gesicht nicht mehr vorstellen, ohne dass es sich in Lias verwandelte.
Er zog sich dreimal am Tag um, und doch roch er immer noch Rosen.
Er wollte sie küssen.
Er wollte sie.
Es konnte nicht gut gehen, das wusste Ross. Er würde Lias Ehe nicht zerstören, er würde Lia nicht in die Situation bringen, sich entscheiden zu müssen. Aber er musste wissen, dass es ihr gut ging. Er musste glauben können, dass sie sich in diesem Augenblick nicht irgendwo in Comtosook eine Rasierklinge ans Handgelenk hielt.
Plötzlich kam eine Frau hereingefegt, die ein Kind wie ein Spielzeug hinter sich herzog. »Ich suche nach einem Patienten«, sagte sie an der Anmeldung. »Ross Wakeman.«
Als Ross Shelbys Stimme hörte, fuhr er herum. Er rief ihren Namen.
»Ross!« Sie kam auf ihn zugestürmt, das Gesicht voller Angst. Ethan trug seine Tageslichtkleidung – von Kopf bis Fuß verhüllt. Die Teile des Gesichts, die Ross sehen konnte, waren fleckig und entzündet.
Shelbys Blick huschte von Ross’ Gesicht zu seinen Armen. Den Handgelenken. »Was ist los mit dir? Wie lange bist du schon hier? Herrje, Ross, warum hast du nicht angerufen?«
»Shel, mir geht’s gut. Aber ich suche nach jemandem. Ich dachte, es könnte ihr etwas passiert sein.«
»Dir geht’s also wirklich gut? Ganz bestimmt?«
»Ja.«
»Ein Glück«, entgegnete Shelby und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
Der Anblick, wie Ross’ Kopf nach hinten schnellte, und der Abdruck ihrer Hand auf seiner Haut waren das Befriedigendste, was Shelby in den letzten achtundvierzig Stunden erlebt hatte, denn ungefähr so lange war ihr Bruder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Sie hatte die Polizei angerufen und war mit einem Detective Rochert verbunden worden, der ihr erklärte, eine Vermisstenanzeige könne erst zwei volle Tage nach dem Verschwinden einer Person aufgenommen werden. Schließlich war sie mit Ethan am helllichten Tag aus dem Haus gegangen, war langsam durch die Stadt gefahren, hatte überall nachgefragt.
»Mensch, Shel«, sagte Ross und hielt sich die brennende Wange. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.«
»Du Scheißkerl.« Shelby kniff die Augen zusammen. »Weißt du eigentlich, wo ich überall nach dir gesucht habe, weil du es nicht für nötig gehalten hast, mir einen Zettel hinzulegen, wann du die Güte haben würdest, wieder aufzutauchen?«
»Wir waren auch unter dem Highway«, warf Ethan ein. »Da lag eine tote Möwe.«
Shelbys Gesicht war rot angelaufen. »Ja, stimmt. Unter dem Highway. Du weißt schon, nur für den Fall, dass du vielleicht auf die Idee gekommen wärst, von der Brücke zu springen.« Shelby hatte Tränen in den Augen.
»Wahrscheinlich ist es albern von mir zu denken, dass die Menschen, die mir etwas bedeuten, mich zumindest davon in Kenntnis setzen, dass sie nicht irgendwo tot im Straßengraben liegen.« Sie wischte sich über die Augen. »Freut mich, dass du dich nicht umbringst, Ross, aber wenn du so weitermachst, bringt mich das bestimmt noch um.«
»Weißt du was?«, sagte Ethan und zupfte Ross am Ärmel. »Die Möwe hatte ein ausgehacktes Auge.«
»Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen, ja? Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten«, sagte Ross.
»So was kann man sich nicht aussuchen.«
»Dann mach dir um jemanden Sorgen, bei dem es angebracht ist.«
»Willst du damit sagen, bei dir wäre es nicht angebracht?«
»Nicht so wie bei dir«, konterte Ross. »Menschenskind, Shel, du lebst wie eine Nachteule. Du hast dich außer von Ethan von allen Menschen abgeschottet. Nie kommt eine Freundin auf eine Tasse Kaffee vorbei, Männerbekanntschaften hattest du schon seit einer Ewigkeit nicht mehr … Herrgott, der Papst erlebt mehr als du. Du bist zweiundvierzig und lebst wie eine Siebzigjährige.«
Sie würde nicht die Fassung verlieren, nicht mitten in der Notaufnahme, nicht vor Ross und vor allem nicht vor Ethan. »Bist du fertig?«
Ross nahm die Hand seiner Schwester und wartete, bis sie schließlich zu ihm aufsah. »Shelby. Ich werde mich nicht umbringen. Versprochen.«
»Das hast du schon mal versprochen, Ross«, flüsterte sie. »Und damals hast du gelogen.«
Nach Aimees Tod hatte Shelby genau gespürt, dass ihr Bruder nicht wieder ins Leben zurückfand. Sie hatte verzweifelt versucht, ihm zu helfen, hatte schließlich einen Termin bei einem Psychiater für ihn vereinbart. Nach der Therapiesitzung hatte Ross ihr erzählt, wie gut es gelaufen sei, und hatte sich sogar bei ihr bedankt. Als Shelby ihren Bruder dann wenige Tage später halb verblutet fand, hatte er noch eine Entschuldigung gehaucht, bevor er das Bewusstsein verlor.
Wie sich herausstellte, war er zu dem Termin beim Psychiater gar nicht erschienen.
»Verrat mir mal«, sagte sie, »wieso ich dir jetzt glauben soll.«
Ross wandte den Blick ab, starrte auf ein Plakat, das zu Organspenden aufrief. Dann begann er, ihr eine Geschichte zu erzählen, von einer Frau, die verschwunden war. Verängstigt … zerbrechlich … schön … wissbegierig: Ross türmte Adjektive aufeinander, und plötzlich war es, als hätte diese Lia Beaumont zitternd zwischen ihnen stehen können.
Ein Wort ließ Shelby aufhorchen. »Verheiratet?«, wiederholte sie.
»Sie hat Angst vor ihm.«
»Ross …«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er. Shelby wusste, dass er log, sie war nur nicht sicher, ob Ross sich selbst darüber im Klaren war. »Ich mache mir Sorgen um sie. Sie weiß nicht, wohin. Sie will da raus, aber sie weiß nicht, wie. Ich … ich habe Angst, sie tut sich was an.«
Und wie gefällt dir das?, dachte Shelby, doch bevor sie es aussprechen konnte, bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihres Bruders. Wie gut kannte sie diesen Ausdruck doch von sich – beim Anblick der Sonne oder von Ethans abgespanntem, schlafendem Gesicht. Er hat sich in sie verliebt, dachte Shelby, und das ändert gar nichts.
Ihre Stimme wurde sanft. »Ross, du kannst sie nicht alle retten.«
Er wich zurück, als hätte Shelby ihn erneut geohrfeigt. »Nur ein Mal«, sagte er leise. »Ein einziges Mal wäre doch schön.« Dann wandte er sich ab und stürmte aus dem Krankenhaus.
Lucy schlief viel. Manchmal träumte sie, dass sie schlief, und sie sah sich selbst im Bett liegen. Manchmal träumte sie, dass sie verfolgt wurde, aber ihre Beine konnten sich nicht schnell genug bewegen. Einmal träumte sie, ein Riese hätte sie gefressen, und sie hätte sich einfach in einem seiner hohlen Backenzähne zusammengerollt und nur noch geschlafen.