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Sie schrie noch immer im Schlaf, aber ihre Kehle war zu müde, um den Schrei auszustoßen.

Ab und zu erklangen Stimmen, schneidend wie ein Messer. Ihre Mutter, die sie anflehte, aufzustehen und ein bisschen zu essen. Granny Ruby, die beteuerte, dass Lucy schon viel besser aussah mit ihren roten Wangen. Sie hörte sie wie von ferne. Sie war in einen Brunnen gefallen und trieb jetzt auf dem Rücken, starrte zur Sonne hinauf.

Gesichter waren wie in ihre Augenlider eingebrannt: ihre Mutter, Granny Ruby und die Frau, die immer kam. Die in dem Baum gehangen hatte, die am Fußende ihres Bettes stand oder, wie jetzt, bei ihr auf der Couch saß, so nah, dass Lucys Füße eiskalt wurden.

Lucy wusste, dass die Frau jetzt eigentlich verschwunden sein müsste. Aber seit sie die Medizin nahm, war die Frau klarer denn je – das bläuliche Gesicht, die Traurigkeit in ihren Augen. Sie machte Lucy nicht mehr so viel Angst. Nein, es war, als wüsste sie Bescheid. Als ob sie das Gefühl kennen würde, vor Menschen zu stehen, die man liebte, und nicht von ihnen wahrgenommen zu werden.

Rod van Vleet hatte die Polizei verständigt, weil das abgerissene Haus wieder aufgebaut wurde. Über Nacht war der Rohbau des gesamten Erdgeschosses wieder errichtet worden. Van Vleet hatte die Abenaki in Verdacht, und er wollte, dass die Polizei von Comtosook sie auf frischer Tat ertappte.

Eli sah zu Watson hinüber, der das Seitenfenster seines Wagens mit Hundesabber bedeckte. Sie waren bereits bei den Zelten der Abenaki gewesen. Bis auf Az Thompson hatten alle tief und fest geschlafen. Als er jedoch kurz darauf auf dem Pike-Grundstück hielt, sah er sofort, warum van Vleet beunruhigt war: Innerhalb des provisorischen Sicherheitszauns schien sich das Haus selbst wieder zusammenzusetzen.

Hinter ihm winselte Watson und wich zurück. »Du Angsthase«, murmelte Eli und stieg über den Zaun. Die Konstruktion war abenteuerlich – Stützpfosten und Dachbalken waren wieder zusammengesetzt, aber es sah nicht ganz richtig aus. Trotzdem konnten sie das Gewicht tragen. Die unteren Mauern waren verputzt und zum Teil schon mit Holz verkleidet. Ein ganzer Bautrupp hätte Wochen dafür gebraucht. Dass es über Nacht geschehen sein sollte, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Vorsichtig stieg Eli über Schutt und Glasscherben, Watson folgte ihm zögerlich. Es gab noch keine Vordertreppe, also musste er zu der offenen Tür hochklettern. Er leuchtete ins Innere. Drinnen fehlten manche Zwischenwände, und die Türrahmen waren schief, aber die Konstruktion war solide. Er roch frische Farbe.

»Das können die Indianer unmöglich geschafft haben«, sagte Eli leise zu Watson. Langsam ging er durch die Räume, unsicher, ob der brüchige Boden ihn tragen würde. Als er an dem Treppengeländer rüttelte, fiel es um. Die Stufen verrutschten unter seinen Schuhen. Eli bückte sich und sah, dass sie nicht festgenagelt worden waren.

Im ersten Stock war das Haus noch unfertiger. Eine komplette Wand fehlte, das Dach war der Sternenhimmel. Nur zwei Zimmer wirkten fertig – ein großes Schlafzimmer am Ende des Ganges und das Bad direkt daneben.

Das Geräusch von fließendem Wasser ließ ihn aufhorchen. Sein Traum von letzter Nacht fiel ihm ein: wieder diese Frau. Diesmal machte sie eine Tür auf. Sie trug einen weißen Bademantel und hatte ein blaues Handtuch ums Haar geschlungen. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, schien all seine Fragen zu beantworten.

Watson legte sich flach auf den Bauch und winselte. Dann fuhr er herum und raste über die wackeligen Bretter die Treppe hinunter. »Du Held«, murmelte Eli und betrat vorsichtig das Badezimmer. Das Wasserrauschen wurde noch lauter, obwohl er im Schein seiner Taschenlampe weder Armaturen noch Leitungen sehen konnte. Als das Licht grell reflektiert wurde, blinzelte Eli zunächst und trat dann näher an den Spiegel heran, der an der Wand hing. Es war ein Wunder, dass etwas so Zerbrechliches die Abrissbirne überstanden hatte. Die Oberfläche war feucht, doch als er sie mit der Fingerspitze berührte, tat sich gar nichts. Als wäre der Spiegel von innen her beschlagen.

Eli hielt die Taschenlampe etwas höher, um nachzusehen, wie der Spiegel an der Wand befestigt war, doch plötzlich erkannte er zwei Hände, die innen gegen die Scheibe drückten. Blitzschnell zog Eli seine Pistole – aber worauf zielte er? Die Wand? Den Spiegel? Wie sollte er einen Feind bekämpfen, den er nicht sehen konnte?

Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Die Hände waren noch immer gegen die Rückseite des Spiegels gepresst. Dann malte ein Finger rückwärts, von rechts nach links, Buchstaben auf die beschlagene Scheibe. H-I-L-F-E.

»Scheiße«, hauchte Eli, und dann wurde der Spiegel plötzlich vor seinen Augen klar gewischt und zeigte ihm sein panisches Gesicht. Er wich rückwärts aus dem Badezimmer und stieg, so schnell er konnte, die wackelige Treppe hinunter. Dicht gefolgt von seinem Hund, rannte Eli aus der offenen Tür hinaus. Als er den Sicherheitszaun gerade überwunden hatte, leuchtete das Haus plötzlich hell auf wie ein Weihnachtsbaum. Eli drehte sich um und starrte mit offenem Mund auf die verblüffende Schönheit eines Leuchtturms mitten im Wald.

Und das in einem Gebäude, in dem es schon seit zwanzig Jahren keinen Strom mehr gegeben hatte.

Es roch nach Tod. Ross konnte ihn auf den Fluren des Pflegeheims riechen, eingehüllt in den Geruch von Ammoniak und Bettwäsche und Tabletten.

Er war heute hergekommen, um Nachforschungen anzustellen, weil er hoffte, so die Gedanken an Lia verdrängen zu können. Seit einer Woche hatte er nichts von ihr gehört. Stattdessen hatte er zahllose Anrufe von Rod van Vleet erhalten. Ob Ross wusste, dass das Pike-Haus sich von selbst wieder aufbaute? Dass noch dazu ein Polizist behauptet hatte, in dem Haus seien alle Lichter angegangen – wo doch die Stromleitungen längst gekappt waren?

Ross hatte seinen Besuch nicht angemeldet, weil er nicht wusste, ob Spencer Pike bereit wäre, ihn zu empfangen. Und jetzt, da er dem alten Mann gegenübersaß, empfand Ross Mitleid mit ihm. Das bisschen Leben, das noch in Pike steckte, schien sich auf seine leuchtend blauen Augen zu beschränken.

»Die mit Zimt und Rosinen kannst du vergessen«, sagte Spencer Pike.

»Wie bitte?«

»So was dürfte gar nicht Bagel heißen. Wenn Sie mich fragen, aber mich fragt ja keiner, darf ein Bagel nicht süß sein, zum Donnerwetter noch mal. Wer schmiert sich schon Marmelade auf sein Schinkenbrot?« Er beugte sich vor. »Sie arbeiten doch für van Vleet. Sagen Sie ihm, dass ich das gesagt habe.«

»Genau genommen arbeite ich nicht für die Redhook-Gruppe«, stellte Ross klar.

Pike zuckte die Achseln. »Was wollen Sie dann hier?«

»Soweit ich weiß, gehörte der gesamte Besitz ursprünglich Ihrer Frau und fiel mit ihrem Tod an Sie, weil Sie keine Kinder hatten.«

»Das stimmt nicht.«

Ross schaute von seinem Notizblock auf. »So steht es im Testament Ihrer verstorbenen Frau.«

»Ist aber trotzdem falsch. Cissy und ich hatten ein Baby, aber es kam tot zur Welt.«

»Das tut mir leid.«

Pike strich die Decke über seinen Beinen glatt. »Das ist lange, lange her.«

»Mr. Pike, ich würde gern wissen, ob Sie irgendetwas über die Geschichte des Grundstücks wissen, bevor es in Ihren Besitz überging.«

»Es gehörte der Familie meiner Frau. Es war seit etlichen Generationen von der Mutter an die Tochter gegangen.«

»Hat das Land je den Abenaki gehört?«

Pike wandte langsam den Kopf. »Wem?«

»Den amerikanischen Ureinwohnern, die gegen das Bauprojekt auf dem Land protestieren.«

»Ich weiß, wer die sind!« Pikes Gesicht lief rot an, und er musste husten. Eine Pflegerin eilte herbei, blickte Ross tadelnd an und sprach beruhigend auf den alten Mann ein, bis er wieder halbwegs regelmäßig atmete. »Die können nicht beweisen, dass es ein Indianerfriedhof war, was?«