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»Gewisse … Umstände«, sagte Ross behutsam, »legen den Schluss nahe, dass es auf dem Gelände spukt.«

»Oh ja, das kann sein. Schließlich ist meine Frau dort gestorben«, sagte Pike heiser.

Das tot geborene Kind, der frühe Tod von Cissy Pike, die Möglichkeit eines ruhelosen Geistes – allmählich fügte sich alles zusammen. »Im Wochenbett?«

Pike schüttelte den Kopf. »Sie wurde ermordet. Von einem Abenaki.«

Während ihrer Mittagspause ging Shelby, einem plötzlichen Impuls folgend, zur Stadtverwaltung hinüber. Lottie, die füllige Sekretärin, saß mit einem Diätplan hinter ihrem Schreibtisch. »Weißt du was?«, fragte sie und griff nach einer Selleriestange. »Gemüse ist Teufelswerk.« Sie biss ein Stück ab. »Schön blöd von mir, eine Diät anzufangen, wo ich sowieso schon schlecht gelaunt bin. Ich wünschte, der ganze Spuk hier hätte endlich ein Ende. Myrt Clooney hat mir erzählt, der Papagei von Wally LaFleur würde neuerdings Edith-Piaf-Lieder singen, einfach so. Und die Kaffeemaschine bei uns im Büro kocht nur noch Limonade.«

Zehn Minuten später saß Shelby unter dem Vorwand, für einen Gönner der Bibliothek eine Information zu suchen, im Kellergeschoss der Verwaltung, umgeben von Kisten mit den Akten des Standesamtes. Sie waren nach Jahren gebündelt, aber nicht sortiert – dicke Packen von vergilbten Karteikarten, auf denen die Geburten und Todesfälle in Comtosook von 1877 bis in die Gegenwart verzeichnet waren.

Ross hatte sie nicht um Hilfe gebeten. Vielleicht war sie gerade deshalb hier – seit ihrer Auseinandersetzung im Krankenhaus ging er ihr geflissentlich aus dem Weg, aber mit einer Höflichkeit, die sie doppelt schmerzte: ein Zettel auf dem Küchentisch mit der Nachricht, dass er zwischen vier und fünf Uhr morgens zurück sei; eine frische Packung Milch im Kühlschrank, wenn er die letzte ausgetrunken hatte. So vieles stand unausgesprochen im Raum. Wie gerne würde Shelby einfach zu ihrem kleinen Bruder sagen: Siehst du denn nicht, dass ich das nur aus Liebe zu dir tue? Aber sie traute sich nicht, aus Angst, von ihm dasselbe zu hören.

Sie wollte, dass sie wieder aufeinander zugingen. Aber da sie nicht die richtigen Worte fand, um sich bei ihm für ihr Misstrauen zu entschuldigen, wollte sie ihm diese Informationen geben, in der Hoffnung, dass das als Entschuldigung genügte.

Die Kiste mit den Todesfällen ab 1930 hatte in den späten Fünfzigerjahren eine Überschwemmung überstanden, und vor lauter Wasserflecken konnte Shelby auf vielen Karten nicht mal die Namen der Verstorbenen entziffern.

Nach einer Weile fand sie den Packen mit den Totenscheinen des Jahres 1932. Das Gummiband, mit dem sie zusammengehalten wurden, war brüchig und zerfiel in ihren Fingern. Die Karten rutschten auf ihren Schoß. Shelby sah sie rasch durch. BERTELMAN, ADA. MONROE, RAWLENE. QUINCY, OLIVE.

Zwei Karten klebten aneinander. Und auf beiden stand der Name PIKE. Die erste war der Totenschein für ein namenloses tot geborenes Kind. Geschätzter Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32. An der Rückseite klebte der Totenschein für eine Mrs. Spencer Pike. Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32.

Shelby fröstelte trotz der Hitze im Keller. Nicht nur, weil diese Frau, diese Mrs. Spencer Pike, die mit gerade mal achtzehn Jahren gestorben war, ihr Baby nie im Arm hatte halten können. Sondern auch weil das Baby keinen einzigen Atemzug getan hatte. Nein, auch weil der Klebstoff, der die beiden Karten so viele Jahre zusammengehalten hatte, ganz offensichtlich Blut war.

Ruby Weber gab es nicht gerne zu, aber sie wurde langsam alt. Sie erzählte allen, sie sei siebenundsiebzig, doch in Wirklichkeit war sie dreiundachtzig. Ihre Hüften bewegten sich wie rostige Angeln, ihre Augen wurden trübe. Das Schlimmste war, dass sie manchmal mitten im Satz einschlief. Eines Tages würde sie einfach einnicken und vergessen, wieder aufzuwachen.

Aber nicht, bevor es Lucy nicht wieder besser ging. Ruby wusste, dass die Medikamente ihrer Urenkelin halfen, doch das hatte seinen Preis – denn jetzt hatten Lucys Albträume sich bei Ruby eingenistet. Ganz gleich, wo oder wann Ruby jetzt einschlief, immer durchlebte sie erneut den Telefonanruf, der ihr Leben zerstört hatte.

Es war an einem regnerischen Montag gewesen, vor acht Jahren. Als sie ans Telefon ging, dachte sie, es wäre jemand von der Apotheke, der Bescheid sagen wollte, dass ihr Arthritismedikament jetzt da war. Oder vielleicht ihre Tochter Luxe, die vom Markt aus anrief, um ihr zu sagen, dass sie ein bisschen später kommen würde. Aber die Stimme am anderen Ende gehörte einem Geist.

Sie saß noch immer mit dem Hörer in der Hand da, zitternd, als Luxe vom Einkaufen kam. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich in der Schlange gestanden habe«, sagte Luxe. »Als ob die Leute Angst vor einer Hungersnot hätten.« Dann sah sie Rubys Gesicht. »Ma? Was ist denn los?«

Ruby hatte die Hand ausgestreckt und Luxe’ Haut berührt, glatt und warm. Wie machte man einem Menschen begreiflich, dass er nicht der war, der er zu sein glaubte?

Jetzt spürte Ruby Hände auf ihren Schultern, die sie sachte rüttelten. »Granny. Granny

Ruby konnte nicht antworten, in Gedanken war sie noch ganz bei Luxe, die zu Boden gesunken war, die Hände auf die Brust gepresst, als Ruby ihr erzählt hatte, wer der Anrufer gewesen war, wer Luxe wirklich war, was Ruby nicht war. Noch immer sah sie Luxe’ Gesicht vor sich, wächsern und still, durch den Eingang der Notaufnahme hindurch, als der Arzt herauskam und ihr mitteilte, dass sie an einem Herzstillstand gestorben war.

An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Meredith in Boston gewesen. Sie traf völlig aufgelöst im Krankenhaus ein und verlangte ein Wunder: mit solch verzweifelter Inbrunst, dass Ruby sich schon fast vorgestellt hatte, wie Luxe auf der Bahre das Leichentuch zurückwirft und sich aufsetzt. Solche Wunder hatte es schon gegeben. Ruby hatte es mit eigenen Augen gesehen.

Sie hatte Meredith nie erzählt, was sie Luxe gestanden hatte, kurz bevor das Herz ihrer Tochter aussetzte. Jetzt jedoch … wo Lucy so litt … vielleicht würde Meredith verstehen, dass die Liebe zu einem Kind eine Frau in den Wahnsinn treiben konnte. »Merry«, sagte Ruby unvermittelt, wollte ihr alles erzählen. »Weißt du noch, als deine Mutter gestorben ist?«

»Ach, Granny«, seufzte Meredith. »Hast du davon geträumt?«

Ihre kühle Hand auf Rubys Wange: Mehr brauchte Ruby nicht, um einzusehen, dass sie nicht denselben Fehler zweimal machen konnte. Sie beschloss, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Das hier war jetzt ihr Leben. Spencer Pike hatte nie wieder angerufen. Und von ihr aus konnte er geradewegs zur Hölle fahren.

Der Hund machte ihn nervös. Das Tier lag etwa einen Meter von Ross’ Fuß entfernt, eine große Pfütze Fell, völlig entspannt, wenn da nicht die dunklen Augen gewesen wären, die Ross starr fixierten, seit er das Büro des Detective betreten hatte. »Mr. Wakeman«, sagte Detective Rochert. »Versetzen Sie sich doch mal für einen Moment in meine Lage. Da kommt jemand, der sich paranormaler Ermittler nennt, in mein Büro spaziert und bittet mich, einen siebzig Jahre alten unaufgeklärten Mordfall wieder aufzunehmen. Von wem soll ich mir denn Zeugenaussagen holen – von Geistern? Und selbst wenn ich einen Täter ermitteln kann, ist der wahrscheinlich tot oder deutlich über neunzig. Kein Staatsanwalt in Vermont würde sich mit so einem Fall befassen.«

Ross schielte zu dem Hund hinüber, der aufgestanden war und die Zähne bleckte. Der Detective schnippte mit dem Finger, und der Hund sackte wie ein Stein zurück auf den Boden. »Ich denke, angesichts der gegenwärtigen Streitigkeiten um das Grundstück ist der Fall aktueller, als Sie glauben. Es ist nun mal ein großer Unterschied, ob eine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt oder ermordet wird. Vielleicht ist Spencer Pike ja senil. Vielleicht waren die Totenscheine von 1932 fehlerhaft. Aber vielleicht verbirgt sich gerade hier der Grund, warum die Abenaki meinen, sie hätten einen Anspruch auf das Land.«