Eli beugte sich vor, und seine dunklen Augen waren plötzlich eiskalt. »Sie sind nicht zufällig zu mir gekommen, weil Sie wissen, dass ich ein Halb-Abenaki bin, nicht wahr? Sie meinen, ich würde den Fall neu aufrollen, weil ich es denen schuldig bin.«
Ross schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der diensthabende Detective sind«, sagte er.
Rochert schluckte. »Mr. Wakeman, Sie begnügen sich mit Ahnungen und Mutmaßungen, ich brauche knallharte Beweise.«
»Im Grunde unterscheidet sich meine Arbeit gar nicht so sehr von Ihrer. Geht die Spurensuche nicht immer davon aus, dass Menschen stets etwas von sich zurücklassen?«, antwortete Ross.
»Unsere Erkennungsdienstler können nach Fingerabdrücken suchen. Aber nicht nach …« Er verstummte, und Ross sah, wie Rochert nachdenklich die Stirn in Falten legte. Nach einem Moment sprach er weiter. »Selbst wenn dieser Mord nach siebzig Jahren noch aufgeklärt wird, würde das nichts ändern. Pikes Frau ist und bleibt tot. Ihm gehört das Land. Und er hat nach wie vor das Recht, es zu verkaufen.«
»Kommt drauf an«, sagte Ross.
»Worauf?«
»Wer den Mord damals begangen hat.«
Eli wunderte sich nicht, dass das Polizeirevier von Comtosook noch immer im Besitz der Akte über einen so lange zurückliegenden, ungelösten Mordfall war. Der Grund dafür war nicht darin zu sehen, dass ungeklärte Fälle mit großer Gewissenhaftigkeit behandelt wurden, sondern in der völlig inkompetenten Archivierung. Es war einfach nie jemand auf die Idee gekommen, jemals das Archiv auszumisten. Er wischte sich Spinnweben von der Wange und zog den ausgebeulten Karton aus dem Regal.
Chief Follensbee würde nichts dagegen haben, wenn Eli sich in seiner Freizeit mit der Sache beschäftigte. Als er zu seinem Schreibtisch zurückging, redete er sich ein, dass sein erwachtes Interesse nichts mit den merkwürdigen Dingen zu tun hatte, die er neulich Nacht im alten Pike-Haus erlebt hatte. Auch nicht damit, dass er sich insgeheim fragte, ob die Frau in seinen Träumen vielleicht aus einem bestimmten Grund immer wieder auftauchte. Der Fall interessierte ihn einfach, weil er bislang nicht aufgeklärt worden war und weil die modernen kriminaltechnischen Möglichkeiten Antworten auf Fragen liefern könnten, die 1932 unbeantwortet bleiben mussten.
Als Eli wieder ins Büro kam, sah Watson gelangweilt zu, wie Eli den Inhalt des Kartons auf den Schreibtisch kippte. Ein Aktenordner, ein Stapel Fotos vom Tatort, eine Papiertüte, eine Zigarrenkiste und eine Schlinge.
Eli zog sich Gummihandschuhe über und nahm das Seil unter die Lupe. Ein ganz normaler Strick, wie er vermutlich sogar noch heute hergestellt wurde. Der Kollege, der damals in dem Fall ermittelt hatte, war so klug gewesen, den Knoten nicht zu lösen; nach all den Jahren war er immer noch intakt.
Er nahm die Fotos vom Tatort in die Hand. Auf einem war eine junge Frau zu sehen, die mit der Schlinge um den Hals ausgestreckt auf dem Boden lag. Brust und Hals waren blutig zerkratzt, nicht von dem Seil, sondern von ihren langen Fingernägeln – sie hatte versucht, sich zu befreien. Auf einem anderen war das Vordach einer Hütte zu sehen. Eli sah genauer hin: Das Vordach lag auf dicken Balken auf. Eine Lache auf dem Boden, vermutlich ausgetretene Körperflüssigkeiten, verriet ihm, dass der Körper an einem der Balken gehangen hatte. Eine weitere Aufnahme zeigte die übel zugerichteten nackten Beine des Opfers.
In der braunen Papiertüte waren ein fleckiges Nachthemd und ein Paar Damenschuhe. Ein kleiner Lederbeutel mit einem gerissenen Lederband und eine Pfeife aus Pappelholz mit schlangenförmigem Pfeifenkopf befanden sich in der Zigarrenkiste. Eli nahm die Pfeife und drehte sie in der Hand. Sein Großvater hatte mal so eine geschnitzt. Er hob sie an die Nase, roch den aromatischen Tabak, der ihn an seine Kindheit erinnerte.
Er legte die Pfeife weg und schlug den Polizeibericht auf.
FALLNUMMER: 32-01
ERMITTELNDER OFFICER: Detective F. Olivette
NAME DES OPFERS: Cecelia Pike (Mrs. Spencer Pike)
GEBURTSDATUM: 09.11.1913
ALTER: 18
WOHNHAFT: Otter Creek Pass, Comtosook, Vermont
TATZEIT: 0.00 – 9.00 Uhr, 19. September 1932
TATORT: Otter Creek Pass, Comtosook, VT
HERGANG:
Um 09 Uhr 28 am Morgen des 19. September 1932 rief Professor Spencer Pike (geb. 13.05.06) im Polizeirevier von Comtosook an und meldete den Mord an seiner Ehefrau Cecelia »Cissy« Pike. Professor Pike gab an, dass der Tod seiner Frau auf ihrem Anwesen irgendwann zwischen Mitternacht und 9 Uhr eingetreten sei. Detective Duley Wiggs und ich begaben uns zum Haus der Familie Pike, um die Ermittlungen aufzunehmen.
Professor Pike war sichtlich erschüttert. Er führte uns zum Eishaus, wo wir den Leichnam seiner Frau vorfanden. Das Opfer lag auf dem Rücken vor dem Eishaus. Es war kein Puls feststellbar. Der Körper fühlte sich kalt an. Daraufhin verständigte ich den Coroner.
Das Opfer trug ein geblümtes Kleid und Schuhe und hatte eine Schlinge um den Hals. An Brust und Hals des Opfers waren tiefe, blutige Kratzer zu erkennen, die Unterschenkel wiesen zahlreiche Blutergüsse auf. Das kleine Vordach des Eishauses wird durch dicke Balken gestützt. Eine erste Untersuchung lässt vermuten, dass das Opfer an einem dieser Balken aufgehängt wurde. Es wurden Fotografien von Opfer und Tatort gemacht.
Neben der Leiche lag ein Lederbeutel mit zerrissenem Riemen. In dem Beutel befand sich eine Art Kräutermasse. Unter den Stufen zum Eishaus entdeckten wir eine geschnitzte Pfeife aus Pappelholz. Am Tatort wurden keinerlei Hilfsmittel gesichert, mit denen das Opfer selbst den Balken hätte erreichen können.
Professor Pike gab an, dass er seine Frau 1931 geheiratet hatte. Er bestätigte, dass er als Dozent im Fachbereich Anthropologie an der University of Vermont tätig ist. Er sagte, dass Mrs. Pike im neunten Monat schwanger war und dass am Abend des 18. September die Wehen eingesetzt hatten. Nach Aussagen von Professor Pike brachte seine Frau mithilfe ihres Hausmädchens um 23 Uhr ein totes weibliches Kind zur Welt. Er stellte fest, dass Mrs. Pike nach der Geburt deprimiert und körperlich erschöpft war. Nach Aussage von Professor Pike fiel seine Frau gegen Mitternacht in Schlaf. Das ist angeblich das letzte Mal, dass Mrs. Pike lebend gesehen wurde.
Professor Pike gab an, dass er, als seine Frau schlief, in sein Arbeitszimmer gegangen sei, um etwas zu trinken. Er schätzte, dass er sechs Scotch auf Eis konsumiert hatte. Er sagte aus, dass er in seinem Schreibtischsessel eingeschlafen und erst gegen 9 Uhr aufgewacht sei. Er habe sofort nach seiner Frau sehen wollen, ihr Schlafzimmer aber leer vorgefunden, mit eingeschlagener Fensterscheibe. Professor Pike gab an, dass er im ganzen Haus nach ihr gesucht habe, ehe er sie aufgehängt am Vordach des Eishauses fand. Er habe sie dann mit einem Messer vom Stützbalken geschnitten.
Die sichergestellte Pfeife und der Lederbeutel wurden Professor Pike gezeigt. Er identifizierte sie als Eigentum eines männlichen Abenaki namens Gray Wolf. Er sagte aus, dass er Gray Wolf am Mittag des 18. September unter Anwendung körperlicher Gewalt von seinem Grund und Boden verwiesen habe. Professor Pike gab an, dass er Zeuge gewesen sei, wie Gray Wolf seine Frau belästigt habe. Nach Aussage von Professor Pike handelt es sich um einen kürzlich entlassenen Häftling, der wegen eines Tötungsdeliktes im Gefängnis von Burlington einsaß und derzeit ohne festen Wohnsitz ist. Professor Pike gab an, dass er Gray Wolf zur Rede gestellt und ihn aufgefordert habe, das Grundstück augenblicklich zu verlassen. Angeblich musste Gray Wolf mit Gewalt gezwungen werden, der Aufforderung nachzukommen.
Professor Pike konnte keine Angaben zum Verbleib des Hausmädchens machen, das nicht da war, als er um 9 Uhr erwachte. Ihre persönliche Habe befand sich jedoch noch im Haus. Ihr Zimmer zeigte keine Spuren eines Kampfes. Professor Pike gab an, dass das vierzehnjährige Hausmädchen körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, seiner Frau etwas anzutun. Er vermutete, dass das Hausmädchen aufgrund seiner schwachen Konstitution möglicherweise davongelaufen sei, nachdem es den Leichnam seiner Frau entdeckt hatte.