Der Coroner, Dr. J. E. DuBois, traf um 10 Uhr ein und untersuchte die Leiche des Opfers. Seine vorläufigen Erkenntnisse deuten auf Tod durch Ersticken hin.
Eli blätterte weiter. Beschreibungen des Hauses, der Gegenstände in Cissy Pikes Schlafzimmer. Anzeichen für einen Einbruch und Kampfspuren. Der Bericht des Coroners. Ein Satz Fingerabdrücke, die dem Opfer abgenommen worden waren. Eine Vernehmung von Pike, eine weitere von Gray Wolf, der freiwillig aufs Revier gekommen war. Aussagen der Männer, die Gray Wolf für die Nacht ein Alibi lieferten. Ein Haftbefehl gegen Gray Wolf, einen Tag später ausgestellt, der nie ausgeführt werden konnte, weil Gray Wolf wie vom Erdboden verschluckt war.
Eli betrachtete das Seil, das Nachthemd, die Pfeife. Zumindest konnte er diese Gegenstände zur DNA-Analyse ins Labor schicken, um feststellen zu lassen, ob Gray Wolf irgendwelche Spuren hinterlassen hatte.
Geistesabwesend streichelte Eli Watsons Kopf. Es war möglich, dass Gray Wolf aus der Stadt geflohen war, weil er wusste, dass er erneut verurteilt werden würde. Aber es war ebenso gut möglich, dass Gray Wolf nie gefunden wurde, weil er die ganze Zeit auf dem Grundstück am Otter Creek Pass war, zwei Meter unter der Erde – dank Spencer Pike.
Was bedeuten würde, dass das Land tatsächlich ein Indianerfriedhof war.
Ross sah, wie der Blitz zwischen den Sternen hindurchzuckte. Dann riss der Himmel erneut auf, Donner grollte. Der erste Tropfen fiel auf Ross’ Stirn.
Bei paranormalen Ermittlungen gab es gewisse Grundregeln im Hinblick auf Temperatur und Wetterbedingungen. Man wollte schließlich keine Geisterfotos aufnehmen, bei denen sich später herausstellte, dass sie nur den Frosthauch des eigenen Atems zeigten. Aus demselben Grund waren Regen und Schneefall tunlichst zu meiden. Ross hatte diese Regeln schon einmal sträflich missachtet, weil Gewitter so viel Energie lieferten, dass Geister sich leichter materialisieren konnten als sonst. Die Warburtons waren einmal nach einem Gewitter vom Staat Connecticut um Hilfe gebeten worden, weil ein Verwaltungsbeamter mit dem Dienstwagen eine Frau angefahren hatte, die über den Highway gelaufen war. Obwohl sechs Zeugen den Unfall gesehen hatten und der Kotflügel des Wagens stark zerbeult war, fehlte von der Frau jede Spur. Curtis hatte die Theorie aufgestellt, dass die gewaltige Energie in der Luft diesen Geist ungewöhnlich verfestigte Substanz hatte annehmen lassen.
Ross hatte seine Ausrüstung am Abend auf der Lichtung aufgebaut, doch der Regen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er zog hastig seine Jacke aus und wickelte sie als Schutz um die Videokamera. Nachdem er alles eingepackt hatte, warf er sich die Tasche über die Schulter, steckte die Taschenlampe ein und stapfte gebeugt durch den Wald. Der gefrorene, regennasse Boden war glitschig. Plötzlich stieß er gegen jemanden, der genauso zielstrebig in den Wald ging wie er hinaus, und fluchte leise. Doch dann sah er, dass es Lia war, die vor ihm stand.
Das Telefon klingelte, und Eli griff nach dem Hörer. »He«, sagte eine weibliche Stimme. »Wieso bist du denn am Samstagabend zu Hause?«
Er lächelte. »Und wieso arbeitest du noch, Frankie?«
Frankie Martine war Genforscherin und eine alte Freundin von ihm. Sie wohnte inzwischen in Maine, wo Eli sie vor zwei Tagen besucht hatte, um ihr persönlich die Beweismittel im Mordfall Pike zu bringen. Sein Chef hätte niemals zugelassen, dass das Geld der Steuerzahler für DNA-Tests verschleudert wurde, die doch nichts bringen würden, und Frankie hatte ihrem alten Freund den Gefallen nicht abschlagen können.
»Ich bin noch im Labor, weil ich Überstunden für alte Freunde machen muss«, sagte sie.
Eli setzte sich. »Hast du was rausgefunden?«
»Kommt drauf an. Jedenfalls hab ich von den Speichelresten auf der Pfeife DNA nehmen können. Und von den Hautzellen an dem Seil. Offenbar eine Mischung aus zwei eindeutigen Profilen. Die erste Probe, die von der Schlinge, stammt von einer Frau – ich vermute, deinem Opfer. Die zweite, die vom Ende des Stricks, stammt von einem Mann.«
»Volltreffer.«
»Nicht ganz, die DNA stammt von einem anderen Mann als dem, dessen Speichel an der Pfeife war.«
Elis Gedanken überschlugen sich. Falls die Pfeife Gray Wolf gehört hatte und falls Gray Wolf Cissy Pike erhängt hatte, müsste dann nicht auch seine DNA auf dem Seil sein? Und wenn nicht, reichte das, um ihn zu entlasten? Und wenn das nicht seine DNA auf dem Strick war … von wem war sie dann? Von den Ermittlungsbeamten? Von Spencer Pike?
»Hm«, sagte Eli, »und was ist mit dem Medizinbeutel? Mit diesem kleinen Lederding?«
»Ach das«, sagte Frankie. »Da krieg ich irgendwie dauernd falsche Resultate. Ich glaube, da stimmt was nicht mit dem Testablauf. Die Ergebnisse sind einfach komisch, mehr nicht.«
»Wann kannst du mir den Bericht liefern?«, wollte Eli wissen und runzelte die Stirn.
»Je länger du mich am Telefon aufhältst, desto später.«
»Danke, Frankie.«
»Bedank dich nicht zu früh«, sagte sie. »Vielleicht ist dir nicht mehr danach, wenn ich fertig bin.«
Ethan steckte schüchtern den Kopf ins Badezimmer, wo seine Mutter gerade ein Schaumbad nahm. »Komm rein, Eth«, sagte sie lachend. »Du kannst ruhig hingucken.«
Er tat es. Tatsächlich. Nur ihr Kopf ragte aus dem Schaum. »Ich krieg das nicht auf«, sagte Ethan und hielt ihr das Glas Erdnussbutter hin.
»Ich versuch’s mal.« Seine Mutter nahm das Glas, drehte den Deckel, reichte es ihm zurück. »Was machst du denn da unten?«
»Ich mach uns Sandwiches. Für nachher, wenn wir den Film gucken.« Sie hatten irgendeinen Kinderkram à la Disney ausgeliehen. Ethan sah zum Fenster, an dem der Regen herablief. »Echt ätzend, dass wir nicht rausgehen können.«
»Ethan.«
»Trotzdem echt ätzend, auch wenn ich das nicht sagen soll.«
Als es an der Tür klingelte, zuckten sie beide zusammen. Wer kam denn um halb zehn an einem Samstagabend zu Besuch? Ethan sah, wie das Gesicht seiner Mutter so weiß wurde wie der Schaum um sie herum. »Ross ist was passiert«, flüsterte sie und sprang auf.
Ethan wandte sich verschämt ab. Sie zog ihren Bademantel über, wickelte sich ein blaues Handtuch um das nasse Haar und eilte die Treppe hinunter.
Er hätte ihr folgen können. Doch stattdessen konnte er nur an das denken, was er von seiner Mutter gesehen hatte, bevor er wegsah – einen Fuß, der aus dem Schaum auftauchte.
Er wusste nicht, wieso, aber dieses Bild erinnerte ihn an die Nacht, als er mit seinem Onkel auf Geisterjagd gewesen war.
In seinen wildesten Phantasien hätte Eli sich nicht vorstellen können, dass er einmal mit jemandem zusammenarbeiten würde, der auf Geisterjagd ging. Aber Frankies abendlicher Anruf hatte alles verändert. Die DNA des angeblichen Mörders hatte sich nicht auf dem Strick gefunden – dafür aber die DNA von jemand anderem. Eli brauchte mehr Hintergrundinformationen. Deshalb wollte er mit jemandem sprechen, der seine historischen Lücken füllen konnte. Und das war Ross Wakeman.
Eli stand auf der Veranda, auf deren Metalldach der Regen trommelte, und klingelte ein zweites Mal. Wakeman hatte ihm seine Telefonnummer und Adresse dagelassen, »nur für den Fall«, so hatte er zu Eli gesagt, »dass Sie es sich anders überlegen und die alte Akte doch noch wieder öffnen wollen.« Elis wachsamer Blick hatte bereits das Skateboard registriert, das an der Wand lehnte, und das Paar gelbe Gartenschuhe gleich daneben. Er war überrascht. Ross Wakeman hatte auf ihn nicht den Eindruck eines Familienmenschen gemacht.