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Schließlich wurde die Tür entriegelt, und eine ängstliche Stimme fragte: »Ist was passiert?«

Doch Eli war nicht in der Lage zu antworten. Er starrte sprachlos die Frau an, die er in seinen Träumen gesehen hatte.

Ethan tauchte die Hand in den Schaum und pustete ihn behutsam weg. Als das Licht in dem Spukhaus ausgegangen war, hatte er so etwas Ähnliches gerochen. Er stand auf und schaltete das Licht aus, tauchte das Badezimmer in Dunkelheit. Mit dem Blumenduft in der Luft und der drückenden Feuchtigkeit war es jetzt genau wie in jener Nacht.

Sein Onkel hatte ihn gefragt, ob er irgendwas gesehen hatte, und Ethan hatte Nein gesagt, er habe sich nur versteckt. Doch einmal hatte er aus einem Versteck hervorgelugt, und da war etwas gewesen. Eine Bewegung im Dunkeln. Zuerst hatte er gedacht, es wäre sein Onkel, der zurückkam, aber er war es nicht. Ethan hatte angestrengt auf die Kontur dort vor ihm geblickt, dünn wie eine Angelschnur. Ein Gesicht oder vielleicht doch kein Gesicht, er konnte es nicht genau sagen, damals genauso wenig wie jetzt.

Nur einer Sache war Ethan sich absolut sicher: Dieser Blumenduft war da gewesen und dann verschwunden. Was immer in dem Zimmer gewesen war, es war Onkel Ross nach draußen gefolgt und nicht umgekehrt.

Ein Blitzstrahl durchbrach den Bann. »Du bist zurückgekommen«, sagte Ross. Er bemerkte gar nicht, dass Lias Augen rot und entzündet waren und dass sie den Kopf schüttelte. Sie war zu ihm zurückgekehrt, und allein deshalb würde er alles tun, um sie bei sich zu behalten. In diesem Moment war er sicher, dass er es mit ihrem Mann würde aufnehmen können. Dass er sogar dem Donner Einhalt gebieten könnte, wenn nötig.

»Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen«, entgegnete Lia.

Ross wehrte den Satz ab wie einen Schlag. »Nein.« Sein Haar war tropfnass, und der Regen rann ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, wie er Lia begreiflich machen sollte, dass eine Trennung eine gemeinsame Entscheidung war, dass ein Mensch einen anderen nicht verlassen konnte, wenn der ihn nicht gehen lassen wollte. Und weil ihm die Worte fehlten, streckte er die Arme nach ihr aus.

Ross nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er glaubte, ihre Unsicherheit und ihren Schmerz zu schmecken. Sie musste doch die Leere in seinem Inneren spüren – und dass nur sie diese Leere auszufüllen vermochte.

Das Gewitter wurde stärker, Blitze zuckten, und der Donner ließ den Boden vibrieren. Lia riss sich von ihm los, sah ihn mit großen Augen an. »Warte«, sagte Ross, doch sie wandte sich ab und lief durch den Wald davon.

Er folgte ihr wie ein Jäger, die Augen auf das Weiß ihres Kragens gerichtet. Sie rannte über die nasse, schneebedeckte Lichtung, zwischen den Erdhügeln hindurch, die aus dem Nichts wieder aufgetaucht waren, und verschwand zwischen den Bäumen.

Auf diesem Teil des Grundstücks war Ross noch nicht gewesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Seine Lunge schmerzte bei jedem keuchenden Atemzug, aber er lief weiter. Lia war in einen schmalen Pfad eingebogen. Dornen verfingen sich in Ross’ Schnürsenkeln, zerkratzten ihm die Knöchel und gaben dann wundersamerweise nach. Die Erde unter seinen Füßen war getaut, ein kleines Fleckchen, bedeckt mit Dutzenden zertrampelter weißer Rosen.

Auch Lia blickte nach unten auf die Blüten, aber sie blieb nicht stehen. Und Ross, der sie nicht aus den Augen ließ, sah ihre Beine direkt durch zwei Grabsteine gleiten, gegen die er einen Moment später mit dem Fuß prallte, sodass er mit dem Kopf voran in den Schlamm stürzte.

Atemlos und benommen kam er auf die Knie. Beim nächsten Blitz konnte er die Namen auf den Grabsteinen entziffern. LILY PIKE, 19. SEPTEMBER 1932. Und in größeren Buchstaben: CECELIA BEAUMONT PIKE, 9. November 1913 – 19. SEPTEMBER 1932.

Cissy Pike. Cecelia. Lia.

Ross hatte von Geistern gehört, die nicht wussten, dass sie Geister waren. Er hatte Erforscher von paranormalen Phänomenen kennengelernt, die von Geistern gebissen, geschlagen, geboxt und gestoßen worden waren. Er war immer davon ausgegangen, dass der erste Geist, den er sehen würde, durchsichtig wäre, aber wenn genug Energie zur Verfügung stand, konnten Geister auch in körperlicher Form erscheinen.

Ross, der immer unter Schlaflosigkeit litt, hatte nach seiner Begegnung mit Lia geschlummert wie ein Baby. Er hatte in ihrer Gegenwart gefröstelt. Das war körperliche Anziehungskraft im elementarsten Sinne gewesen: Ein Geist hatte ihm seine Wärme entzogen.

»Ross«, sagte Lia, und er hörte das Wort im Geist, unausgesprochen. »Ross?« Über den Grabstein, ihren Grabstein, hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen.

Noch während er nach ihr griff, wusste er, dass ihm das nur Schmerz bringen würde. Von Lias Fingern stieg Kälte seinen Arm hinauf. Ihre Gesichtszüge wurden durchsichtig. Ross wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zwang sich hinzusehen, damit er diesmal genau den Augenblick mitbekam, in dem er zurückgelassen wurde.

TEIL ZWEI

1932

Es gibt zwei Möglichkeiten des Irrtums.

Die eine ist zu glauben, was nicht wahr ist,

die andere ist, nicht zu glauben, was wahr ist.

SØREN KIERKEGAARD

FÜNF

4. Juli 1932

Fließendes Wasser reinigt sich selbst. Der Strom des Keimplasmas scheint das nicht zu tun.

H. F. Perkins:

Lehren aus der Eugenik-Erhebung von Vermont: Erster Jahresbericht 1927

Einen Tag nachdem ich versucht habe, mich umzubringen, sagt Spencer, dass wir zu einem Straßenfest in Burlington fahren. Er sagt es mir, während er mir das Handgelenk neu verbindet. »Da gibt es eine Wahrsagerin, Cissy«, sagt er. »Feuerschlucker und Gaukler. Und es gibt allen möglichen Schnickschnack zu kaufen.« Dann kommt er zum eigentlichen Grund, warum wir zu dem Fest fahren: »Dein Vater«, sagt Spencer, »will sich dort mit uns treffen.«

Obwohl es draußen so heiß ist, dass Löwenzahn und Sonnenhut die Köpfe hängen lassen, hilft er mir in meine langärmelige weiße Bluse, weil man dann den Verband nicht sieht. »Es braucht keiner zu wissen, was passiert ist«, sagt er ruhig, und ich starre auf den Scheitel in seinem Haar, bis ich den rosa Schimmer nicht mehr ertragen kann und wegschaue. »Du bist wieder schlafgewandelt, mehr nicht. Du hast gar nicht gemerkt, was du tust.«

Für Spencer ist die Fassade, die man der Welt zeigt, wichtiger als das, was darunterliegt. Der Zweck heiligt die Mittel. »Komm schon, Cissy«, sagt er liebevoll. »Enttäusch mich nicht.«

Nicht mal im Traum würde ich das tun. Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Na schön«, sage ich.

Am liebsten würde ich sagen: Nenn mich nicht Cissy. Das ist ein Name für Heulsusen, wie eine Prophezeiung, und sieh dir an, was aus mir geworden ist. Am liebsten würde ich sagen: Meine Mutter hat mir den Namen Cecelia gegeben, und der ist schön, ein Fluss von Silben. Einmal, als mir der Brombeerwein zu Kopf gestiegen war, den ich bei einem Fakultätsessen getrunken hatte, habe ich zu meinem Mann gesagt, dass ich Lia genannt werden möchte. »Leah?«, fragte er kopfschüttelnd. »Aber das ist doch die Frau, die Jakob nicht gewollt hat.«

Er hilft mir auf, weil meine Schwangerschaft ein Zustand ist, den Spencer akzeptieren kann. Über mein Leiden sprechen wir dagegen nicht. Da Spencers Arbeit mit Geisteskrankheiten zu tun hat, können wir uns nicht eingestehen, dass ich mit den Menschen, die in der Nervenanstalt in Waterbury eingesperrt sind, irgendetwas gemein haben könnte.