Jemandem wie Spencer kann ich nicht erklären, wie es ist, wenn man in einen Spiegel blickt und das Gesicht darin nicht wiedererkennt. Dass ich an manchen Tagen alle Kraft zusammennehmen muss, um eine Maske aufzusetzen und durch mein Leben zu spazieren, als wäre ich eine andere. Ich habe schon neben ihm gesessen und mir die Fingernägel in die Handflächen gebohrt. Denn wenn ich blute, muss ich real sein.
Nachdem ich so viele Jahre übergangen worden bin, fällt es mir leicht zu glauben, dass die Welt ohne mich besser dran wäre. Spencer sagt, das liegt an meinem Zustand, an chemischen Stoffen in meinem Körper, die verrückt spielen, aber ich weiß es besser. Ich habe nie in diese Stadt gepasst, diese Ehe, diese Haut. Ich bin das Kind, das beim Spielen immer nur geduldet wurde. Ich bin das junge Mädchen, das lachte, obwohl es den Scherz nicht verstanden hat. Ich bin der Teil von dir, den du verleugnest, aber ich bin nur das, immer.
Und doch. Das Baby in mir weiß von alledem nichts. Und wenn ich mir und gleichzeitig ihm das Leben nehme, dann werde ich zweimal jemanden getötet haben, den ich eigentlich hätte lieben müssen.
Diese Wahrheit nutzt Spencer aus. Er scherzt und flirtet mit mir, sodass ich mich, als wir losfahren, schon fast auf das Fest freue. Den ganzen Weg den Otter Creek Pass hinunter denke ich an die Wahrsagerin; ob sie das Gesicht meiner Mutter in ihrer Kristallkugel finden wird oder nur den Abgrund, den ich selbst darin sehe.
Frage:
Was ist das Kostbarste auf der Welt?
Antwort:
Das menschliche Keimplasma.
Frage:
Wie wird das Keimplasma unsterblich?
Antwort:
Durch Fortpflanzung.
Frage:
Wie lautet die eugenische Pflicht eines jeden?
Antwort:
Dafür zu sorgen, dass seine guten Eigenschaften an zukünftige Generationen weitergegeben werden, vorausgesetzt, sie sind zahlreicher als seine schlechten Eigenschaften. Sollte er ein Übermaß an dysgenischen Eigenschaften aufweisen, so sollten diese eliminiert werden, indem das Keimplasma mit dem individuellen Träger ausstirbt.
American Eugenics Society,
Ein eugenischer Katechismus, 1926
Die Hitze macht die Straßen weich wie reifes Obst, das Pflaster gibt unter meinen Schuhen nach. Männer in Sommeranzügen und Frauen in modischen Leinenkleidern gehen Hand in Hand. Straßenhändler verkaufen Zitroneneis und kleine, rot-weiß-blaue Windmühlen. Alle haben ein übertrieben breites Lächeln aufgesetzt.
Spencer sucht die Menge nach meinem Vater ab. »Harry kommt doch sonst nie zu spät«, murmelt er. »Siehst du ihn irgendwo?«
Aber Spencer ist größer als ich, und er trägt eine Brille. Anstatt Ausschau nach meinem Vater zu halten, fällt mir ein barfüßiger Junge auf, der neben einer Pfütze kniet und eine Handvoll Pennys herausfischt, die jemandem aus dem Portemonnaie gefallen sind. Er gehört zu einer Welt, die ich nicht kenne – Menschen, die in den Siedlungen am North End wohnen, zweihundert Meter entfernt, in einer anderen Welt.
»Hallo, Schatz«, sagt mein Vater hinter uns. Er küsst mich auf die Wange. »Entschuldige, Spencer«, sagt er und schüttelt ihm die Hand. »Ich hab mir einen Boxkampf angesehen. Ist schon erstaunlich, wenn man sich die Physiognomie von manchem Einwanderer ansieht …«
Wissenschaft ist für mich eine Fremdsprache, aber ich bin damit großgeworden. Mein Vater, Harry Beaumont, ist Biologieprofessor an der University of Vermont. Spencer, Professor für Anthropologie, teilt seine Auffassung hinsichtlich der Mendel’schen Vererbungslehre. Und sie sind Schüler eines weiteren Professors, Henry Perkins, der die Eugenik – die Lehre vom menschlichen Fortschritt durch genetische Verbesserung – in Vermont gesellschaftsfähig gemacht hat. Professor Perkins hat die Eugenik-Erhebung in Vermont geleitet – eine mit privaten Mitteln finanzierte Untersuchung von Familien hier in Vermont. Jetzt arbeitet er ehrenamtlich für die mächtige Vermont Commission on Country Life, genau wie mein Vater und Spencer. Ihr Komitee hat eine langjährige Studie über degenerierte Familien durchgeführt, um herauszufinden, ob es sich auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg eines Ortes auswirkt, welche Menschen dort wohnen. Die erstellten Stammbaumanalysen sollen Sozialarbeitern und Bewährungshelfern bei ihrer Arbeit behilflich sein. Zusammen mit dem neuen Sterilisationsgesetz rückt Vermont dadurch auf eine Stufe mit den anderen Bundesstaaten, die bereits Vorbild für unser Land geworden sind.
Es ist eine fortschrittliche Reformbewegung, so sagt Spencer, die Vermont aber nicht nach vorn bringen soll, sondern zurück – zu der idyllischen Landschaft, die sich jeder vorstellt, wenn er Vermont hört, den weißen Kirchen, den Hügeln in herbstlichen Farben. Spencer hat als einer der Ersten erkannt, dass dieses Bild verloren geht, wenn gute Yankee-Erbmasse mit schwächeren Erbanlagen durchsetzt wird. Natürlich hat die Untersuchung ergeben, dass in Ortschaften, denen es wirtschaftlich schlecht geht, vermehrt Familien wohnen, deren Mitglieder gehäuft in Nerven- und Besserungsanstalten und Gefängnissen landen. Rezessive Gene wie Schwachsinnigkeit und kriminelle Neigungen werden selbstverständlich an die Nachkommen weitergegeben – das geht alles aus den Stammbaumkarten hervor, die mein Vater immer auf unserem Esstisch entrollt hat. Indem in diesen Bevölkerungsgruppen die Fortpflanzung gezielt verhindert wird, könnte Vermont wieder so malerisch werden, wie es einmal war.
»Meine Feldforscher suchen die ideale Vermonter Familie«, sagt Spencer. »Leute wie uns.«
Manchmal frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich nicht Spencer geheiratet, sondern studiert und als Feldforscherin an der Erhebung mitgearbeitet hätte, wie Frances Conklin und Harriet Abbott. Wäre ich dann glücklicher geworden? Diese Frauen waren Teil der Bewegung, die Vermont in die Zukunft führen möchte. Sie bewirkten etwas.
Spencer sagt, dass manche Frauen dafür geschaffen sind, die Welt zu verändern, während andere dazu da sind, sie zusammenzuhalten. Und dann gibt es noch uns Übrige, die einfach nicht auf der Welt sein wollen, weil wir wissen, dass wir einfach nicht dazugehören, sosehr wir uns auch bemühen.
Mein Vater legt den Arm um meine Schultern. »Wie geht’s meinem Enkelsohn?«, fragt er, als wäre uns das Geschlecht des Babys bereits bekannt.
»Stark wie ein Stier«, sagt Spencer. »Tritt Cissy den lieben langen Tag gegen den Bauch.«
Alle strahlen. Keiner erwähnt meine Mutter, obwohl ihr Name unausgesprochen zwischen uns schwebt. War ich vor meiner Geburt auch so stark? War das das Problem?
Schweiß rinnt mir am Körper herab. Meine Kopfhaut juckt unter dem Hut.
»Was wollen wir uns ansehen?«, fragt Spencer. »Es gibt ein Baseballspiel und ein Motorbootrennen. Oder sollen wir zu den Dressurnummern?«
Durch das Menschengedränge hindurch sehe ich einen Mann, der mich anstarrt. Er ist dunkelhäutig wie ein Indianer, und seine Augen sind tiefschwarz. Er lächelt nicht und tut auch nicht aus Höflichkeit so, als würde er mich nicht fixieren. Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen, auch nicht, als Spencer mich am Arm berührt. Ich weiß nicht, was mich mehr fasziniert: das Gefühl, dass dieser Mann mir wehtun könnte oder dass er es nicht tut.
»Cissy?«
»Die Dressurnummern«, sage ich und hoffe, dass das die passende Antwort ist.
Als ich mich erneut umwende, ist der Mann verschwunden.
Freiheit und Einheit.
Motto des Staates Vermont
Wir sitzen auf der Tribüne und sehen uns Bertie Briggs’ tanzende Katzen an. Ich fächele mir mit dem Programmheft Kühlung zu und hebe mein Haar von meinem feuchten Rücken, um es unter den Hut zu stecken. Die Schweißflecken unter meinen Armen sind mir peinlich.