Spencer sieht in seinem Sommeranzug so kühl und ruhig aus wie immer. Er und mein Vater beobachten ein paar Zigeuner, die ihre Waren feilbieten – Körbe und winzige Schühchen, Kräutertinkturen. Sie haben den Sommer über ihr Lager am Fluss und am See aufgeschlagen, und viele von ihnen verbringen den Winter in Kanada. Sie sind natürlich keine richtigen Roma, nur Indianer – aber man nennt sie Zigeuner, weil sie herumziehen, dunkelhäutig sind und in großen Familienverbänden leben. Viele von ihnen bevölkern regelmäßig die Gefängnisse und Behelfsunterkünfte.
Das sind die Menschen, die Professor Perkins in seiner Erhebung untersucht hat – neben einem Clan, der in armseligen Hütten am Wasser lebte. Viele von ihnen waren geisteskrank. Der Unterschied zwischen diesen Familien und beispielsweise uns ist rein genetisch. Der von einem Herumtreiber gezeugte Sohn wird später selbst ein Herumtreiber. Eine leichtlebige Mutter vererbt diesen Zug an ihre Tochter.
»In Brandon sind drei weitere Operationen durchgeführt worden«, sagt mein Vater. »Zwei davon im Gefängnis.«
Spencer lächelt. »Wunderbar.«
»Genau das hatten wir uns erhofft. Ich könnte mir vorstellen, dass alle Patienten sich dazu bereiterklären, wenn ihnen klar wird, dass sie nach einem kleinen Eingriff so leben können, wie es ihnen beliebt.«
Eine von Bertie Briggs’ getigerten Katzen balanciert über ein Drahtseil. Ihre Pfoten zittern, zumindest glaube ich, dass sie zittern, denn ich kann nicht mehr richtig sehen. Ich blicke in meinen Schoß, atme tief, versuche, nicht ohnmächtig zu werden.
Die magere Hand, die vom Tribünenrand auf mich zuschnellt, ist entweder schmutzig oder einfach nur dunkel. Sie legt mir einen zerknitterten Zettel mit einem Mond und Sternen darauf auf den Schoß. MME. SOLIAT LIEST IHNEN KOSTENLOS AUS DER HAND. Als ich aufblicke, ist der kleine Junge schon wieder in der Menge verschwunden.
»Ich gehe rasch zur Toilette«, sage ich und stehe auf.
»Ich komme mit«, erklärt Spencer.
»Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen.« Schließlich lässt er mich gehen, aber erst nachdem er mir die Tribünentreppe hinuntergeholfen und die richtige Richtung gezeigt hat.
Als ich sicher bin, dass er nicht mehr hinter mir hersieht, gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Verstohlen hole ich eine Zigarette aus meiner Handtasche – Spencer meint, Frauen sollten nicht rauchen – und husche in das Zelt von Madame Soliat. Es ist klein und schwarz mit aufgenähten gelben Stoffsternen. Die Wahrsagerin trägt einen silbernen Turban und drei Silberringe in jedem Ohr. Ein Wolfshund hechelt neben ihrem Tisch, seine Zunge rosa wie eine Narbe. »Setzen Sie sich«, sagt sie, als hätte sie auf mich gewartet.
Sie hat keine Teeblätter, keine Kristallkugel. Sie greift nicht nach meiner Hand. »Haben Sie keine Angst«, sagt sie schließlich mit ihrer tiefen Männerstimme, als ich gerade aufstehen und gehen will.
»Hab ich nicht.« Ich drücke die Zigarette aus und hebe das Kinn ein wenig höher, um ihr zu zeigen, wie mutig ich sein kann.
Sie schüttelt den Kopf und blickt nach unten auf meinen gewölbten Bauch. »Davor.«
Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Ich rechne damit, dass mich das gleiche Schicksal ereilen wird. Ich werde mein Baby also nicht kennenlernen … aber hoffentlich meine Mutter.
»Das werden Sie«, erwidert die Wahrsagerin, als hätte ich laut gesprochen. »Was Sie nicht wissen, werden Sie bald erfahren. Doch dann werden die Dinge schwierig.«
Sie spricht in Rätseln, würde Spencer sagen. Natürlich würde Spencer niemals zu einer Wahrsagerin gehen, das wäre ihm viel zu unwissenschaftlich. Sie erzählt mir noch andere Dinge, die auf jeden Menschen zutreffen könnten: dass ich bald eine große Summe Geld bekomme, dass ich einem Fremden begegnen werde. Schließlich greife ich in meine Handtasche, um einen Dollar herauszuholen, doch da spüre ich plötzlich ihre Finger um mein Handgelenk. Ich will mich losreißen, doch sie hält meine Hand so fest, dass ich meinen eigenen Puls spüre. »Der Tod klebt an deinen Händen«, sagt sie, und dann lässt sie los.
Verstört stolpere ich nach draußen in die gleißende Sonne. Oh, sie hat recht, er klebt dort seit ich zur Welt kam und dabei meine Mutter tötete.
Ich gehe, ohne zu wissen, wohin, schiebe mich zwischen gesichtslosen Menschen hindurch. Eine Gruppe von Studenten reißt mich mit auf den Eingang eines Kristallpalastes zu, und gleich darauf befinde ich mich in einem Spiegelkabinett.
Spencer hat mir von diesem Irrgarten erzählt, der zwanzigtausend Dollar gekostet hat. Hinter den hohen Zwischenwänden erschallen die Rufe der Studenten, die sich schon verirrt haben. Die Luft ist dick. Ich kann mir selbst nicht entfliehen, wohin ich auch schaue, überall bin ich.
Die Hitze drückt mir in den Nacken. Ich beuge mich zu einem Spiegel vor, fahre mit dem Finger über meinen gewölbten Bauch, in dem das Baby ist. Ich berühre meine Wange, mein Kinn. Sehe ich wirklich so verängstigt aus?
Ich lasse meine Hand über die Scheiben gleiten, folge meinem Spiegelbild von einer Scheibe zur nächsten … und plötzlich verwandelt sich mein Gesicht in etwas ganz anderes. Schwarze Augen, noch schwärzeres Haar, ein Mund, der vergessen hat, wie man lächelt. Wir stehen nur Zentimeter voneinander entfernt, berühren uns fast. Ich – und der Mann, der mich vorhin angestarrt hat. Keiner von uns scheint zu atmen.
Ach diese elende Hitze. Das ist mein letzter Gedanke, bevor alles um mich herum schwarz wird.
Es ist die Pflicht eines jeden patriotischen Ehepaars, genügend Kinder zu bekommen, um die gute Vermonter Erbmasse zu sichern.
Aus: Ländliches Vermont: Ein Programm für die Zukunft, 1931
»Ganz ruhig, Cissy.«
Spencers Stimme treibt durch einen langen Tunnel zu mir herab. Als mein Blick klar wird, sehe ich die alte Waschschüssel mit Krug auf meiner Kommode, das messingfarbene Fußende unseres Bettes. Ein nasses Tuch liegt auf meiner Stirn, Wasser tropft mir ins Haar, auf das Kissen.
Er hält meine Hand. Es erinnert mich an meine Kindheit, wie ich an der Hand meines Vaters die Church Street überquerte. Mit siebzehn habe ich Spencer geheiratet, und er wurde der nächste Erwachsene, der auf mich aufpasste. Plötzlich wird mir klar, dass ich nie Gelegenheit hatte, erwachsen zu werden.
»Geht’s dir besser?«, fragt Spencer und lächelt mich so zärtlich an, dass sich etwas in mir löst.
Ich liebe ihn. Den Geruch seines Haars und die gebogene Nase mit der Brille, die langen, sehnigen Muskeln, die man unter seinen gestärkten Hemden und Jacken nicht vermuten würde. Aber ich wünschte, wir wären uns irgendwo anders begegnet, in New York oder Iowa oder auf einer Kreuzfahrt – irgendwo anders, sodass seine Beziehung zu mir unabhängig von seiner Beziehung zu meinem Vater wäre.
Er legt seine Hand auf meinen Bauch, und ich schließe die Augen. Er hat mich gewählt, weil ich Harry Beaumonts Tochter bin, nicht, weil ich ich bin.
»Wie bin ich hergekommen?«, frage ich.
»Du bist ohnmächtig geworden.«
»Die Hitze …«
»Ruh dich aus, Cissy.«
Ich möchte laut schreien, dass es mir gut geht, auch wenn es nicht stimmt. Als Kind bin ich manchmal auf das Dach des Hauses geklettert, hab die Arme ausgebreitet und aus Leibeskräften gebrüllt, bis ganz Comtosook mich hörte. Nicht, weil ich irgendetwas Wichtiges zu verkünden hatte, sondern weil mein Vater immer wollte, dass ich leise bin.
Dieser Charakterzug ist wie ein schwarzer Wirbel in meinem Blut. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn von meiner Mutter geerbt habe. »Ich lasse Ruby bei dir«, Spencer küsst mich auf den Kopf. »Bald geht’s dir wieder gut.«