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Unser Hausmädchen ist vierzehn, fast alt genug, um meine Freundin zu sein, und doch trennen uns Welten. Nicht bloß, weil sie Frankokanadierin ist, nein, ich fühle mich viel älter als sie. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, tanzt Ruby nach dem Wäscheaufhängen zwischen den weißen Bettlaken an der Leine. Ich dagegen vergesse niemals, dass mich jemand sehen könnte.

Sie kommt mit einem braunen Paket herein. »Miz Pike«, sagt sie, »schauen Sie, das ist heute mit der Post gekommen.«

Sie stellt das Paket neben mir ab, wobei sie vergeblich versucht, den Verband an meinem Handgelenk zu übersehen. Ruby weiß natürlich, was passiert ist. Sie hat eine Schüssel mit warmem Wasser für Spencer gehalten, während er mich verarztete. Sie gehört mit zum Komplott des Schweigens.

Ruby löst die Kordel und öffnet das Paket. Es enthält ein Paar Halbstiefel, genau wie die, die Spencer mir vorhin ausgezogen hat. Die neuen sind eine Nummer größer, weil mir alle Schuhe im Verlauf der Schwangerschaft zu eng geworden sind. Ich spähe über den Bettrand auf Rubys Schuhe. »Du hast doch Größe siebenunddreißig, nicht?«

»Ja, Ma’am.«

»Dann nimm doch meine alten. Ich glaube nicht, dass meine Füße wieder kleiner werden.« Ruby hebt die Schuhe auf, als wären sie eine Kostbarkeit. »Meine Schwester hat mir immer die Sachen gegeben, aus denen sie rausgewachsen war.«

»Du hast eine Schwester?« Wie kann ich seit einem Jahr mit diesem Mädchen unter einem Dach wohnen und das nicht wissen?

»Nicht mehr. Diphtherie.« Ruby breitet den restlichen Inhalt des Kartons auf dem Bett aus: winzig kleine Pullover und Socken und Hemdchen in allen Farben. Dann hält sie eine Babymütze mit Spitzenbesatz zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Haben Sie schon mal so was Feines gesehen?«

Ruby freut sich mehr auf das Baby als ich. Ich freu mich zwar, dass es bald auf die Welt kommt – aber niemand scheint zu begreifen, dass ich die Geburt nicht überleben werde. Ich hab einiges von Spencer gelernt; ich weiß, dass der Defekt in meinem Keimplasma ist. Wenn es mir nicht gelingt, mich vorher umzubringen, dann ist der Tag, an dem das Baby zur Welt kommt, der Tag, an dem ich sterben werde.

Spencer hat mir einige gynäkologische Tests gezeigt, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Er ist mit mir zu den besten Ärzten gegangen. Ich nicke, ich lächle, manchmal höre ich sogar zu. Währenddessen plane ich meinen Selbstmord. Doch dann spüre ich, wie die kleinen Füße des Babys meinen Rippenbogen streifen, als wüsste der Kleine instinktiv, wo mein Herz zu finden ist, und ich begreife, dass ich verloren bin.

»Aber nicht doch, Miz Pike«, sagt Ruby, und ich merke erst jetzt, dass ich weine. »Soll ich den Professor holen?«

»Nein.« Ich wische mir mit dem Betttuch über die Augen. »Nein, alles in Ordnung. Ich bin bloß müde.«

Letzte Nacht dachte ich, wenn ich tief genug schneiden würde, könnte ich vielleicht den Ort finden, an dem es die ganze Zeit schmerzt. Als Spencer mir den Verband anlegte, sagte er, ich müsste an mein Baby denken. Ich habe immerhin noch zwei Monate bis zur Geburt. Er versteht nicht, dass ich sehr wohl an meinen Sohn gedacht habe. Ich wollte ihm die Last ersparen, die ich mein ganzes Leben mit mir herumtrage: das Wissen, dass er der Grund für meinen Tod war.

Ich weiß, dass ich nicht logisch handle, dass auch mein Baby in Gefahr ist, wenn ich mir Schaden zufüge. Aber wenn ich allein mit der Dunkelheit und der Nacht und einer Messerklinge bin, zählt die Vernunft nicht mehr. Ich habe oft versucht, es Spencer zu erklären. »Aber ich liebe dich doch«, sagt er, als wäre das schon genug, um mich hier zu halten.

»Weißt du, wie das ist, durch ein Zimmer voller Menschen zu gehen und dich so einsam zu fühlen, dass du kaum noch den nächsten Schritt tun kannst?«

»Miz Pike«, flüstert Ruby statt einer Antwort.

»Vielleicht könnten wir so tun, als wären wir Schwestern.«

Ruby, eine Dienstbotin, und ich, die Gattin eines der angesehensten Bürger von Burlington. »Vielleicht«, antworte ich.

Spencers Hauptseminar findet in einem kleinen Raum statt, der nach Leinsamenöl und Philosophie riecht. Spencer steht vorne in Hemdsärmeln. Auf einer Leinwand hinter ihm sind Lichtbilder von Schädeln zu sehen. »Man beachte den Unterschied zwischen dem dolichozephalen und dem brachyzephalen negroiden Schädel«, sagt Spencer. »Der prognathische Kiefer, die abgeflachte Nase, die Nähe zum Affen … all das sind Anzeichen für eine minderwertige Daseinsform.«

Eine Hand schnellt hoch. »Wie primitiv sind sie?«, fragt ein Student.

»Rudimentär«, erläutert Spencer. »Wie Kinder. Sie erfreuen sich an leuchtenden Farben wie Kinder. Sie sind fähig, einfache Freundschaften zu schließen, wie Kinder.« Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, und als seine Augen dann über mich hinweggleiten, leuchten sie kurz auf. »In der kommenden Woche beschäftigen wir uns mit der Einteilung der Menschheit in fünf klar unterscheidbare Rassen«, kündigt er noch an, dann sammeln die Studenten ihre Bücher ein und gehen. Lächelnd kommt Spencer auf mich zu. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Es ist Mittwoch«, rufe ich ihm in Erinnerung. »Mittwochs essen wir doch immer zusammen zu Mittag.« Wie zum Beweis hole ich den Korb mit unserem Lunch hinter meinem Rücken hervor.

Ein kleines V bildet sich auf Spencers Stirn. »Ach, Cissy, so ein Pech, Harry Perkins hat mich für heute Nachmittag zu einer Unterredung gebeten. Ich habe gar keine Zeit.«

»Ist nicht schlimm«, sage ich.

»Brav.«

»Spencer?«, rufe ich ihm nach. »Soll ich warten?« Aber er hört mich nicht oder will mich nicht hören. Mit einem Seufzer stelle ich den Picknickkorb ab.

»Mrs. Pike?«

Ertappt fahre ich herum und sehe Abigail Alcott. Sie ist Ende zwanzig und Sozialarbeiterin beim Wohlfahrtsamt. Sie trägt einen modischen marineblauen Rock und eine plissierte weiße Bluse. In letzter Zeit hat sie sich öfter mit Spencer getroffen, um mit ihm die Unterlagen von der Erhebung durchzugehen, die sie bei ihrer Arbeit verwendet. Sie soll abschätzen, welche von den minderwertigen Familien noch zu bessern sind und welche von dem neuen Sterilisationsgesetz profitieren werden.

»Hallo, Abigail«, sage ich, so selbstsicher ich kann, denn sie ist älter als ich und hat eine richtige Ausbildung, nicht bloß zwei Jahre in einem Mädchenpensionat.

»Ist der Professor da?« Sie blickt auf ihre Armbanduhr. »Wir wollten heute Nachmittag zusammen nach Waterbury fahren.«

Ich bin also nicht die Einzige, die Spencer versetzt. Ich würde gern wissen, was sie in der Nervenanstalt machen wollen. Bei diesem Thema haben sie mich nie ernst genommen – ich verstehe längst nicht so viel von Eugenik wie mein Vater oder mein Mann.

Die süße Welle der Auflehnung erfasst mich.

»Hat er Sie denn nicht über sein Treffen mit Professor Perkins informiert?« So weit ist es noch keine Lüge. »Spencer wollte Ihnen eine Nachricht schicken … aber er hat ja immer so viel zu tun … Jedenfalls soll ich an seiner Stelle mit Ihnen nach Waterbury fahren.«

Abigail starrt mich an, aber sie ist zu höflich, um zu sagen, was sie denkt: Dass ich keine ausgebildete Sozialarbeiterin bin, dass ich noch lange keine Eugenikexpertin bin, bloß weil mein Vater und mein Mann es sind. Ihre Augen wandern zu meinem schwangeren Bauch. »Spencer ist ganz sicher, dass kein Risiko besteht«, füge ich hinzu.

Das ist entscheidend. Abigail würde sich lieber den rechten Arm abhacken, als Spencers Urteilsvermögen infrage zu stellen. Sie sieht mich prüfend an, nickt schließlich. »Also dann«, sagt sie, »fahren wir.«

Vermont braucht eine systematische psychiatrische Erhebung, die jeden vorkommenden psychischen Defekt innerhalb unserer Grenzen erfasst, sowie Einrichtungen, die sämtliche abhängigen und kriminellen Individuen einer gründlichen psychiatrischen Untersuchung unterziehen.

Kinderhilfswerk, Vermont: Zweiter Jahresbericht, 1921