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Die Nervenheilanstalt in Waterbury wurde 1890 erbaut. Dr. Stanley, der Leiter, war einmal bei uns zum Dinner, nachdem er sich 1927 für das Sterilisationsgesetz eingesetzt hatte, das dann doch nicht verabschiedet wurde. Ich war damals dreizehn, und ich erinnere mich noch an den Schweißrand an seinem Kragen, daran, dass er keinen Rosenkohl mochte und dass er mir zu nahe kam, während er Konversation betrieb.

»Man sollte meinen, dass die meisten Patienten in Waterbury an Chorea Huntington leiden, da es eine vererbbare Nervenkrankheit ist«, sagt Abigail, als wir den Weg vom Parkplatz hinaufgehen. Jetzt, da sie sich in den Kopf gesetzt hat, mir alles beizubringen, was ich bislang verpasst habe, ist sie gesprächig, fast freundlich. »Aber wie sich herausgestellt hat, sind hier auch jede Menge Zigeuner.«

Wir haben die Tür zum Gebäude A erreicht, die neue Station, auf der viele Patientinnen untergebracht sind. Abigail blickt mich mit leuchtenden Augen an. »Wie ist das, neben einem Mann aufzuwachen, der so ein … Visionär ist?«, fragt sie, und dann wird ihr Gesicht so rot wie die Backsteine des Gebäudes.

Plötzlich öffnet sich die Tür der Anstalt, und wir werden hineingesogen, denn die Hölle ist ein Vakuum. Pflegeschwestern mit weißen Hauben bewegen sich lautlos in den Gängen. Eine Patientin steht am Empfangsschalter und schluchzt haltlos. Eine andere läuft mit nassem Haar nackt über den Flur. Ein Mädchen, kaum älter als Ruby, sitzt auf einer Bank. Sie trägt eine Jacke, mit der ihre Arme an die Holzlatten hinter ihr gefesselt sind. Unter der Bank ist eine Lache.

»Miss Alcott!« Dr. Stanley kommt in einem blütenweißen Kittel auf uns zu.

»Cissy? Cissy! Sie sind ja richtig erwachsen geworden.« Er registriert meinen gewölbten Leib. »Und rundlicher, wie ich sehe. Offenbar darf ich Ihnen gratulieren.«

»Danke.«

»Mrs. Pike vertritt heute den Professor«, erklärt Abigail.

Dr. Stanley verbirgt seine Überraschung gut. »Ausgezeichnet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Er geht den Flur hinunter. Ich kann mich jedoch nicht von dem leeren Blick des Mädchens auf der Bank losreißen.

»Mrs. Pike!«, ruft Abigail eindringlich, und ich zwinge mich hinterherzugehen.

Dr. Stanley, der eine Gelegenheit sieht, Spencer mit meiner Hilfe zu beeindrucken, macht einen ausführlichen Rundgang mit uns. An manchen Stellen drängen sich so viele Insassen auf den Fluren, dass wir im Gänsemarsch gehen müssen. »Unser Antrag auf einen Erweiterungsbau ist endlich bewilligt worden. Sie sehen ja, wir platzen aus allen Nähten.«

»Wie viele Patienten haben Sie?«, fragt Abigail.

»Neunhundertsiebenundneunzig«, sagt Stanley.

Der Doktor deutet auf eine offene Tür, die in einen großen sonnigen Raum führt, in dem es von Patienten wimmelt. »Ich halte viel von handwerklicher Arbeit. Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Frauen sitzen an Tischen und flechten Körbe oder setzen Wäscheklammern zusammen. Sie blicken zu mir hoch und sehen eine reiche Lady in modischer Umstandskleidung. Sie merken nicht, dass ich eine von ihnen bin.

»Wir verkaufen die Erzeugnisse«, sagt Stanley stolz. »Der Erlös wird für die Freizeitgestaltung der Patienten verwendet.«

Dr. Stanley führt uns weiter den Gang hinunter bis zu einer geschlossenen Tür. »Leider sind nicht alle unsere Patienten kooperativ«, sagt Dr. Stanley. Er sieht mich an. »Ich weiß nicht, ob eine Frau in Ihrem Zustand sich das wirklich …«

»Mir geht es gut.« Zum Beweis öffne ich selbst die Tür.

Und bereue es sofort.

Zwei kräftige Männer stehen rechts und links von einer Wanne voll Wasser und haben die Hände auf die Schultern einer nackten Frau gelegt. Bevor sie untertaucht, sehe ich noch, dass ihre Lippen blau und ihre Brüste eingefallen sind. Über ihrem Kopf strömt Wasser aus einem Kran. Daneben liegt eine andere Frau mit dem Gesicht nach unten auf einem Tisch. Ein Laken bedeckt ihren Oberkörper. Eine Krankenschwester pumpt durch einen Schlauch Wasser in den After der Patientin. »Hydrotherapie und Darmspülung wirken bei aufsässigen Patientinnen Wunder«, sagt Stanley. »Aber ich möchte Ihnen heute etwas anderes zeigen. Meine Damen, ich bin stolz, Ihnen die erste Patientin präsentieren zu können, die in unserer Anstalt freiwillig eine Sterilisation hat vornehmen lassen. Sie ist gleich hier.« Er führt uns in den hinteren Bereich des Raumes. »Die Salpingektomie wurde durchgeführt, als sie wegen einer Magen-Darm-Erkrankung auf die Krankenstation kam. Sie stammt aus einer der ersten zehn Familien, die in der Erhebung untersucht wurden, einer Familie, in der es seit Generationen Fälle von Depressionen und destruktiven Verhaltensauffälligkeiten gibt. Dr. Kastler und ich haben die beiden erforderlichen Unterschriften geleistet.«

Wir bleiben vor einem Tisch stehen, neben dem ein Assistent sitzt, der einen genauso weißen Kittel trägt wie Dr. Stanley. Auf dem Tisch liegt eine zitternde Frau. »Ihr Zustand ist gut«, sagt der Psychiater begeistert. »Die ganze Aufregung …«, er winkt ab, »hat nichts mit dem Eingriff zu tun.« Der Assistent wickelt kalte, nasse Tücher um die Patientin, während sie mit den Zähnen klappert. »Feuchte Umschläge sind bei schwierigen Fällen oft ausgesprochen wirkungsvoll«, sagt Dr. Stanley.

»Was hat sie getan?«, höre ich mich fragen.

»Versuchter Selbstmord. Zum dritten Mal.«

Jetzt erst fallen mir ihre Hände auf, die verbundenen Gelenke. Nur durch die Gnade Gottes bin ich verschont. Wenn mein Vater nicht Harry Beaumont wäre, wenn mein Ehemann nicht Pike wäre, läge ich dann jetzt dort auf dem Tisch?

»Ich … entschuldigen Sie …« Ich drehe mich von Dr. Stanley weg, gehe durch den Raum und hinaus auf den Gang. Ich haste an dem überfüllten Aufenthaltsraum vorbei, an dem Mädchen, das an die Bank gefesselt ist. Als ich um eine Ecke stürme, pralle ich gegen eine Patientin. Sie ist groß und dunkel, hat das Haar zu fettigen Zöpfen geflochten. Ihre Arme sind von der Schulter bis zum Handgelenk zerkratzt. »Dir nehmen Sie auch noch dein Baby weg«, sagt sie.

Ich lege schützend die Arme vor den Bauch. Als sie die Hand hebt und mich berühren will, wende ich mich um und fliehe ins Freie. Ich hole tief Luft und setze mich auf die Steinstufen. Nach wenigen Augenblicken ziehe ich den Ärmel meiner Bluse hoch und löse den Verband. Der Schnitt sieht aus wie ein halb geöffneter Mund in der Haut.

So findet Abigail mich, als sie fünfzehn Minuten später herauskommt. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, weil ich mich schäme. Sie setzt sich neben mich. Ich sehe, dass sie die Wunde registriert, aber sie sagt nichts dazu. »Als ich das erste Mal hier war«, gesteht Abigail, »bin ich zurück ins Büro gefahren, habe meine Kündigung geschrieben und meinem Chef gesagt, dass ich nicht robust genug bin, um als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Genau deshalb müssen Sie es machen. Damit es eines Tages immer weniger Menschen gibt, die leiden müssen.«

Wenn man es so betrachtet, ergibt es sogar Sinn. Man muss heute tun, was man kann, um die Welt von morgen zu ändern. Und ich frage mich, ob jemand die Patientin gefragt hat, warum sie nicht mehr leben wollte, ob es irgendetwas damit zu tun hat, dass sie keine Babys mehr bekommen kann.

»Sie haben nicht aufgegeben«, sage ich.

Abigail schüttelt den Kopf. »Und Sie werden auch nicht aufgeben«, sagt sie nicht unfreundlich, als sie mir den Ärmel herunterzieht. »Morgen früh, acht Uhr. Kommen Sie in mein Büro an der Church Street.«

Frage:

Warum Sterilisation?

Antwort:

Um die Rasse von denjenigen zu reinigen, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie die dysgenischen Neigungen weitergeben werden, unter denen sie selbst leiden. Um die Notwendigkeit aller möglichen Wohlfahrtsmaßnahmen zu verringern. Um Steuern zu senken. Um Leid und Elend zu mildern. Um das zu tun, was die Natur unter natürlichen Bedingungen auch tun würde, aber humaner. Sterilisation ist keine Strafmaßnahme. Sie hat lediglich eine Schutzfunktion.