American Eugenics Society,
Ein eugenischer Katechismus, 1926
Als ich nach Hause fahre, steht die Sonne schon tief am Horizont. Ich freue mich jetzt schon so sehr auf morgen.
Ich parke den Wagen und steige die Verandastufen empor. Kurz vor der Tür stoße ich mit dem Fuß gegen etwas Kleines, Leichtes. Ich blicke nach unten und sehe ein winziges Körbchen, nicht größer als meine Faust, ein richtiges kleines Kunstwerk.
Ich schiebe es in die Tasche meines Kleides und gehe ins Haus. »Cissy?« Spencers Stimme zieht mich an wie ein Magnet. Er steht in der offenen Tür seines Arbeitszimmers, seinen abendlichen Scotch in der Hand. »Da komme ich von der Universität nach Hause geeilt, um meine hübsche Frau um Verzeihung zu bitten, weil ich sie mittags versetzt habe, und sie hat mich schon verlassen.«
»Nur vorübergehend«, sage ich und küsse ihn auf die Wange.
»Und was hat dich in eine so gute Stimmung versetzt?«
Ich sehe Ruby, die reglos im Hintergrund steht. »Die Kinderhilfe«, lüge ich. »Wir hatten ein Treffen.«
Rubys Augen wenden sich ab. Ich hätte es ihr gesagt, wenn ich zu einem Treffen gefahren wäre.
»Alles«, sage ich, »sieht gut aus.«
Ruby folgt mir ins Schlafzimmer und fängt an, mein Kleid aufzuknöpfen. »Ich weiß, was du denkst«, sage ich. Doch sie erwidert nichts, zieht mir das Kleid aus und reicht mir ein bequemeres aus Baumwolle, das ich zum Abendessen tragen werde. Sie macht es zu und hängt dann das andere Kleid auf einen Bügel. Das Körbchen fällt heraus.
Ich hebe es auf und lege es in die Nachttischschublade. Ihre Neugier ist geweckt, das sehe ich ihr an, doch ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Ich schulde ihr keine Erklärung. Und im Augenblick bin ich zu aufgeregt wegen morgen, um mir Gedanken zu machen, was passieren könnte, wenn Spencer herausfindet, wo ich heute war.
Die von uns durchgeführten Stammbaumanalysen von Familien, die Staat und Kommunen zur Last fallen, haben ergeben, dass eine recht hohe Anzahl der untersuchten Fälle französische und indianische Vorfahren, bisweilen mit einer negriden Vermischung, aufzuweisen haben.
H. F. Perkins, »Projekt Nr. 1« Archiv zur EEV, 1926
Oxbury ist eine kleine Ortschaft am Ufer des Lake Champlain, die Abigail Alcott in ihrem Bericht in Fleetville umbenannt hat, um Unbeteiligte zu schützen. »Den Stammbaum für diese einzelne Familie zu erstellen«, so erklärt Abigail mir, als wir auf das Zigeunerlager zugehen, »war ungemein aufwendig, genauso gut hätte man die Herkunft der Frösche im Fluss ermitteln können.«
Nachdem die Feldforscher entschieden hatten, welche Familien untersucht werden sollten, stellten sie fest, ob irgendwelche Angehörigen in den Akten von Waterbury sowie des Staatsgefängnisses, der Besserungsanstalt von Vermont und der Schule für Geistesschwache in Brandon vermerkt waren. Gespräche mit Lehrern, Geistlichen, Nachbarn und sogar entfernten Verwandten, denen es gelungen war, sich aus dem kriminellen Teufelskreis ihrer Sippe zu befreien, ergänzten die Ergebnisse, die dann in einem Abschlussbericht zusammengefasst wurden.
Abigail hat mir erlaubt, die Notizen zu lesen, die sie sich bei etlichen Besuchen gemacht hat: Die Delacours, eine Mischung aus frankokanadischem und indianischem Blut, sind aus der Verbindung von Kusine und Vetter ersten Grades hervorgegangen. Die beiden heirateten katholisch und hatten siebzehn Kinder, von denen zehn schwachsinnig waren und drei keinerlei Gefühl für »geschlechtlichen Anstand« besaßen, wie Abigail es ausdrückt. In den nachfolgenden Generationen traten vermehrt Alkoholiker, Kriminelle und Arme auf. Mitglieder mehrerer Familien lebten zusammen in einer kleinen Hütte. In den letzten sechs Jahren waren Angehörige von Hinesburg über Cornwall, Burlington und Waybridge nach Plattsburgh gezogen, kehrten aber im Sommer stets nach Fleetville zurück, wo sie die Handwerkserzeugnisse verkauften, die sie den Winter über hergestellt hatten, und fischten. Der Hauptdefekt der Gruppe war Schwachsinnigkeit, doch die Neigung zu Kriminalität, Abhängigkeit und nomadischer Lebensform war unübersehbar.
In ihren Unterlagen bezeichnet Abigail die Delacours als Moutons – der Name ihres Pudels, wie sie mir verrät. Die Familien müssen unbedingt anonym bleiben. »Sie glauben ja nicht, wie leicht man an Informationen kommt«, sagt Abigail. »In jedem Ort gibt es mindestens eine Familie, bei der es heißt: ›Ach, die.‹«
Aber was nützen die Pseudonyme, wenn doch sowieso jeder die Leute kennt.
Als wir ins Lager kommen, merke ich sofort, dass Abigail schon öfter hier war. Barfüßige Kinder laufen auf sie zu, und sie holt Bonbons für sie aus ihren Rocktaschen. »Wissen sie, warum wir hier sind?«, frage ich leise.
Sie lächelt. »Sie wissen, dass ich mich für ihr Leben interessiere. Das sind sie von Leuten, die so aussehen wie ich, nicht gewohnt. Und genau deshalb reden sie.«
Wir bleiben vor einer Hütte stehen, und da keine Tür vorhanden ist, klopft Abigail an den Pfosten. »Jeanne weiß, dass wir kommen«, sagt sie, und da wird auch schon das Tuch vor dem Eingang gelüftet. Eine kleine Frau, kaum älter als Abigail, winkt uns unsicher herein, fordert uns auf, an einem Tisch Platz zu nehmen.
Die Hütte besteht aus einem einzigen Raum. Ein Eimer neben der Tür ist mit frischem Wasser gefüllt, und auf einer Arbeitsplatte türmen sich schmutzige Teller und Tassen.
»Jeanne«, sagt Abigail und bringt ein Lächeln zustande, das ihre Augen nicht erreicht, »ich freue mich, Sie kennenzulernen. Das hier ist Mrs. Pike.«
Jeannes Augen wandern nicht höher als bis zu meinem Bauch. »Ihr erstes?«
»Ja.«
»Ich habe auch ein Kind«, sagt Jeanne mit Inbrunst. »Einen Jungen.«
»Ja«, antwortet Abigail. »Ihre Tante Louise hat mir viel von Norman erzählt.«
»Oho«, entgegnet Jeanne und wackelt mit dem Kopf. »Er war ihr Liebling. Sie hat ihn immer mitgenommen, wenn sie im Wald Pflanzen sammeln gegangen ist – Wacholder und Schwarzkiefer und Blutwurz.« Über Abigails Schulter hinweg sehe ich, was sie notiert. Bubikopf – Rock mit Sicherheitsnadeln befestigt. Strümpfe bis unter Knie gerollt. Wirkt bekümmert.
»Jeannes Sohn ist in der Schule für Geistesschwache in Brandon«, erklärt Abigail mir. »Man sagt mir, Sie haben einen Brief von ihm bekommen, Jeanne.«
Das zumindest scheint sie aufzumuntern. Als sie aufspringt, um ihn zu holen, beugt Abigail sich zu mir. »Der Staat hat ihr den Jungen weggenommen. Als die Sozialarbeiter kamen, hockte er hier und aß rohes Fleisch. Rohes Fleisch!«
Einen Moment später ist Jeanne wieder da und hält stolz den Brief hoch. »Wie alt ist Norman jetzt?«, erkundigt sich Abigail.
»Im Oktober wird er zehn.«
»Lesen Sie mir vor, was er geschrieben hat?«
Jeanne zaudert, aber nur kurz. Stockend arbeitet sie sich durch die unleserliche Schrift des Jungen, berichtigt sich ständig. Große Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben, notiert Abigail. Mutter und Sohn. Zu Jeanne sagt sie: »Das klingt ja nach einem gelehrigen Schüler!«
Jeannes Augen werden weicher, weil sie meint, in Abigail eine Freundin gefunden zu haben. »Missus Alcott, Sie arbeiten doch für die Behörden … können Sie da nicht mal fragen, wann Norman wieder nach Hause darf?«
»Ich darf mich entschuldigen«, sage ich. »Ich möchte etwas an die frische Luft.«
Draußen fällt mir ein Mann auf, der mit dem Rücken zu mir am Seeufer steht und angelt. Rhythmisch und anmutig wirft er die Leine aus und holt sie wieder ein, als vollführe er einen kunstvollen Tanz. Er trägt eine Hose mit Hosenträgern, und sein schwarzes Haar fällt ihm weit über den Rücken.